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Sie verstummte. Und ich begriff: Genau darüber wollte Swetlana sprechen. Über etwas unendlich Grauenvolles. »Was ist dort, Sweta?«, flüsterte ich.

»Ich bin relativ lange dort gewesen«, fuhr Swetlana fort. »Also… ich habe etwas verstanden. Im Moment spielt es keine Rolle, auf welche Weise. »

»Und?«

»Was in diesem Hexenbuch steht, stimmt alles, Anton. Wir sind keine richtigen Magier. Wir verfügen über keine größeren Fähigkeiten als die Menschen. Wir sind genau wie das blaue Moos aus der ersten Schicht. Erinnerst du dich noch an das Beispiel in dem Hexenbuch, bei dem es um die Körpertemperatur und die Temperatur der Umwelt ging? Bei allen Menschen liegt die magische Temperatur bei 36,6 °C. Wenn jemand großes Glück oder großes Unglück hat, bekommt er Fieber. Die Temperatur dieser Menschen ist also höher. Und all diese Energie, all diese Kraft wärmt die Welt. Unsere Körpertemperatur liegt unter der Norm. Wir schöpfen fremde Kraft und können sie umverteilen. Wir sind Parasiten. Bei einem schwachen Anderen wie Jegor liegt die Temperatur bei 34 °C. Bei dir beträgt sie beispielsweise 20 °C. Bei mir 10 °C.«

Wie aus der Pistole geschossen antwortete ich. Darüber habe ich nämlich schon nachgedacht, als ich das Buch gelesen hatte. »Ja und, Sweta? Was folgt daraus? Die Menschen können ihre Kraft nicht nutzen. Wir schon. Wo ist da der Unterschied?«

»Der Unterschied besteht darin, dass die Menschen sich damit niemals zufrieden geben würden. Selbst anständige, selbst gute Menschen schielen immer ein wenig neidisch auf diejenigen, denen mehr gegeben ist. Auf Sportler, schöne Männer und Frauen, geniale und talentierte Menschen. Darüber muss man sich nicht beklagen… Das ist Schicksal, Zufall. Aber jetzt stell dir mal vor, du seist ein ganz gewöhnlicher Mensch. Absoluter Durchschnitt. Plötzlich erfährst du, dass jemand hundert Jahre alt wird, die Zukunft voraussagen kann, Krankheiten heilt und Unheil anrichtet. Und zwar richtig, ohne Pfusch! Und all das auf deine Kosten! Wir sind Parasiten, Anton. Genau wie die Vampire. Genau wie das blaue Moos. Wenn das herauskommt, wenn jemand einen Apparat erfindet, um Menschen und Andere voneinander zu unterscheiden, dann beginnt die Jagd auf uns, dann wird man uns ausrotten. Vereinzelt würden wir inmitten der Menschen leben und irgendwann von ihnen erwischt werden. Oder wir würden uns zu Gruppen zusammenschließen und einen eigenen Staat gründen. Mit Atombomben werfen.«

»Abgrenzen und schützen…«, flüsterte ich die Hauptlosung der Nachtwache.

»Richtig. Abgrenzen und schützen. Und zwar nicht Menschen vor Dunklen, sondern Menschen vor Anderen überhaupt.«

Ich lachte. Sah in den Nachthimmel hinauf und lachte, erinnerte mich daran, wie ich selbst gewesen war, vor nicht allzu langer Zeit, als ich eine dunkle Straße entlangging, den Vampiren entgegen. Mit heißem Herzen, sauberen Händen und einem leeren, kühlen Kopf…

»Wie oft haben wir darüber gesprochen, wodurch wir uns von den Dunklen unterscheiden…«, sagte Swetlana leise. »Einmal bin ich auch auf folgende Formulierung gestoßen: Wir sind die guten Hirten. Wir kümmern uns um die Herde. Das ist vermutlich nicht mal wenig. Nur sollten wir weder uns selbst noch andern etwas vormachen. Niemals werden alle Menschen Andere werden. Niemals werden wir uns den Menschen zu erkennen geben. Und niemals werden wir den Menschen erlauben, eine mehr oder weniger anständige Gesellschaft aufzubauen. Kapitalismus, Kommunismus - darum geht es doch gar nicht. Was wir wollen, ist eine Welt, in der die Menschen sich einzig um die Größe der Futtertröge und die Qualität des Heus Sorgen machen müssen. Denn sobald sie den Kopf aus dem Futtertrog ziehen, sich umsehen und uns erblicken, wäre das unser Ende.«

Ich sah in den Himmel - und streichelte Swetlanas Hand auf meinen Knien. Nur ihre Hand, diese warme und schlaffe Hand - die vor kurzem Blitz und Donner gegen eine schädliche verräterische Hexe geschleudert hatte…

Die hilflose Hand einer Großen Zauberin, in der nur halb so viel Magie steckte wie in mir.

»Und wir könnten nichts machen«, flüsterte Swetlana. »Die Wachen werden die Menschen niemals aus dem Stall lassen. In den Staaten gibt es große und gut gefüllte Futtertröge, in die du gern den Kopf steckst. In Uruguay gibt es nur ab und an etwas Grün an einem Abhang, sodass dir keine Zeit bleibt, in den Himmel zu schauen. Alles, was wir tun können, ist, einen möglichst freundlichen Viehstall auszusuchen und ihn in einer fröhlichen Farbe anzustreichen. »

»Was, wenn du das den Anderen erzählst?«

»Die Dunklen schert das nicht. Die Lichten würden sich damit abfinden. Ich habe etwas erfahren, was ich nie erfahren wollte, Anton - und mich damit abgefunden. Vielleicht sollte ich dir nichts davon erzählen? Aber das wäre nicht fair. Es würde dich quasi zu einem Teil der Herde machen.«

»Sweta…«Ich sah zu dem schwachen Schein des Nachtlichts im Fenster hinüber. »Sweta, welche magische Temperatur hat unsere Nadjuschka?«Sie zögerte, bevor sie antwortete. »Null. »

»Die Größte der Großen…«, sagte ich.

»Absolut frei von jeder Magie…«, versicherte Swetlana noch einmal. »Was sollen wir jetzt tun?«

»Leben«, sagte Swetlana bloß. »Ich bin eine Andere… und es ist zu spät, die Unschuldige zu mimen. Ich kriege meine Kraft von den Menschen, ziehe sie aus dem Zwielicht, doch auch das ist fremde Kraft. Aber das ist nicht meine Schuld. »

»Ich gehe zu Geser, Sweta. Gleich jetzt. Ich verlasse die Wache. »

»Ich weiß. Fahr.«

Ich erhob mich, hielt die schaukelnde Hängematte an. Es war dunkel, nicht einmal Swetlanas Gesicht konnte ich erkennen.

»Fahr, Anton«, wiederholte sie. »Es wird uns schwer fallen, einander in die Augen zu sehen. Wir werden Zeit brauchen, um uns daran zu gewöhnen. »

»Was ist dort? In der fünften Schicht?«, fragte ich. »Das solltest du besser nicht wissen. »

»Gut. Dann frage ich Geser. »

»Soll er dir antworten… wenn er will.«

Ich beugte mich vor und berührte ihre Wange - die tränenfeucht war.

»Es ist widerwärtig…«, flüsterte sie. »Widerwärtig… ein Parasit zu sein. »

»Halte durch…»

»Das tu ich.«

Als ich in den Schuppen ging, fiel eine Tür zu. Swetlana war ins Haus gegangen. Ohne Licht anzuschalten, setzte ich mich ins Auto und schlug die Tür hinter mir zu.

Was hatte Onkel Kolja hier wohl angestellt? Ob ich losfahren konnte? Der BMW sprang sofort an, leise und ruhig surrte der Motor.

Ich schaltete die Scheinwerfer an und fuhr aus dem Schuppen. Die Regeln der Maskierung?

Scheiß drauf. Was soll sich ein Hirte vor seinem Schaf verstecken!

Mit leichten Passes öffnete ich das Tor, ohne aus dem Auto zu steigen. Ich fuhr auf die Straße und gab Gas. Das Dorf wirkte leer und tot. Man hatte den Schafen Schlafmittel ins Futter geschüttet…

Das Auto ließ den Ort hinter sich. Ich schaltete das Fernlicht ein, drückte weiter aufs Gas. Durch das offene Fenster schlug der Wind herein. Ich tastete auf dem Armaturenbrett nach der Fernbedienung, stellte den MD-Player ein.

Ohne Mantel kam ich in die winddurchwehte Stadt, Die sich mir wie Efeu um den Hals geschlungen hat. Schlangenringe schnüren mir die Seele ein, Der ich unter schwarzer Sonne keine Träne wein. Dreist geworden, tu ich oft, was nicht richtig ist; Was wohl das Kaninchen hofft, das die Schlange frisst? Wenn man sich gewöhnt hat, stören Schlangenringe kaum, Eine schwarze Sonne seh ich, einen schwarzen Traum. Tugend, Laster klar zu trennen, kannst du nicht verlangen; Jene, die die Wahrheit kennen, macht man wohl zu Schlangen. Unter jeder Flagge bin ich willens, hinzusiechen, Und bereit, im Zickzack auf dem Boden langzukriechen, Und von Liebe singen, bis mir zum Kotzen ist, Wenn es für mein Vaterland denn von Nutzen ist.