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Ich blickte auf den imaginären»Kompass«. Langsam drehte sich die Nadel.

»Wir sollten umgehend Aschenbrödel anheuern«, sagte Geser, während er sich umsah. »Wir müssen einen Mohnsamen in einem Sack Hirse finden.«

Einer nach dem andern tauchten die Inquisitoren neben uns auf. Edgars Gesicht, der sich bereits auf einen harten Kampf eingestellt und vorbereitet hatte, spiegelte seine Verwirrung wider.

»Er versucht, sich zu verstecken«, sagte Sebulon. »Schön, soll er…«

Doch auch in seinem Gesicht stand keine besondere Freude geschrieben.

Unserer Gruppe näherte sich eine schwer befrachtete Frau mit gestreiften Plastiktaschen auf einem Handwagen. In dem verschwitzten roten Gesicht zeigte sich jene Entschlossenheit, wie sie nur eine russische Frau haben kann, die als so genanntes Shuttle arbeitet, indem sie Sachen aus dem Ausland heranschafft und sie hier verkauft, um ihren nichtsnutzigen Mann sowie drei oder vier Kinder durchzufüttern.

»Der Zug nach Uljanowsk ist noch nicht ausgerufen, oder?«, wollte sie wissen.

Swetlana schloss kurz die Augen. »In sechs Minuten auf Gleis 1, fährt mit drei Minuten Verspätung ab«, antwortete sie dann.

»Vielen Dank«, meinte die Frau, die sich über die Präzision der Auskunft nicht im Mindesten verwunderte. Dann ging sie zu Gleis 1.

»Das ist sehr freundlich, Swetlana«, murmelte Geser. »Aber welchen Vorschlag hast du, damit wir das Buch finden?«Swetlana breitete nur die Arme aus.

Das Cafe war so gemütlich und so sauber, wie ein Bahnhofscafe gemütlich und sauber sein kann. Vielleicht, weil es etwas komisch lag, im Souterrain, neben den Schließfächern. Hierher kamen kaum Bahnhofspenner, anscheinend hatten die Betreiber des Cafes ihnen das abgewöhnt. Eine ältere russische Hausfrau stand hinter dem Tresen, aus der Küche brachten einsilbige, freundliche Kaukasier das Essen herbei. Ein komischer Ort.

Ich holte für Sweta und mich trockenen Wein aus einem Dreiliter-Tetrapack. Der zu meinem Erstaunen billig und zu meinem noch größeren Erstaunen gut war. Damit kehrte ich zu dem Ecktisch zurück, an den wir beide uns gesetzt hatten.

»Es ist noch immer hier«, sagte Swetlana, indem sie in Richtung Arinas Brief nickte. Die Nadel des»Kompasses«drehte sich langsam.

»Vielleicht ist das Buch in einem Schließfach versteckt«, schlug ich vor.

Swetlana nippte an ihrem Wein und nickte - entweder meinem Vorschlag zustimmend oder sich mit dem Merlot aus Kras nodar abfindend. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig.

»Warum der Bahnhof?«, antwortete Swetlana mit einer Gegenfrage.

»Um zu fliehen. Sich zu verstecken. Der Täter muss damit gerechnet haben, dass wir ihn verfolgen.«

»Der Flughafen. Ein Flugzeug. Egal wohin«, entgegnete Swetlana lakonisch, wobei sie ihren Wein in kleinen Schlucken trank. Ich breitete die Arme aus.

In der Tat, das war seltsam. Ein Anderer - wer auch immer er sein mochte - konnte, nachdem er das Fuaran gestohlen hatte, versuchen unterzutauchen oder zu fliehen. Unser Kandidat wählte die zweite Variante. Aber warum mit dem Zug? Im 21. Jahrhundert eine Flucht per Zug? »Vielleicht hat er Angst vorm Fliegen«, mutmaßte Swetlana.

Ich schnaubte nur. Natürlich hätte auch ein Anderer kaum Chancen, einen Flugzeugabsturz zu überleben. Aber er könnte sich drei, vier Stunden vorher die Wahrscheinlichkeitslinien ansehen, klären, ob bei einem Flug eine Katastrophe droht. Dazu ist sogar ein schwacher Anderer in der Lage. Und der Mörder von Viteszlav war nicht schwach.

»Er muss irgendwohin, wo keine Flugzeuge hinfliegen«, schlug ich vor.

»Immerhin könnte er Moskau erst mit dem Flugzeug verlassen, um seine Verfolger abzuschütteln.«

»Nein«, korrigierte ich Swetlana voller Vergnügen. »Das würde ihm nichts bringen. Wir könnten seinen Aufenthaltsort annähernd bestimmen, würden ahnen, in welchem Flugzeug der Täter sitzt, die Passagiere befragen, die Aufzeichnungen der Überwachungskameras im Flughafen auswerten und seine Identität feststellen. Dann würde Geser oder Sebulon ein Portal öffnen… und zwar genau da, wo er hin wollte. Damit hätte er im Vergleich zur jetzigen Situation nichts gewonnen, wir aber würden unseren Feind persönlich kennen.«

Swetlana nickte. Sah auf die Uhr. Schüttelte den Kopf. Einen Moment lang schloss sie die Augen und lächelte gelassen. Mit Nadjuschka war also alles in Ordnung.

»Warum sollte er überhaupt fliehen…«, meinte Swetlana nachdenklich. »Die Durchführung des Rituals, das im Fuaran beschrieben wird, dürfte kaum viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Zauberin hat schließlich noch eine große Zahl ihrer Dienstboten in Andere verwandelt, als sie angegriffen wurde. Für den Mörder wäre es viel leichter gewesen, das Buch zu benutzen und ein Großer zu werden… der Allergrößte. Dann könnte er sich entweder auf einen Kampf mit uns einlassen oder das Fuaran vernichten und untertauchen. Wenn er nämlich stärker als wir geworden wäre, könnten wir ihn einfach niemals enttarnen.«

»Vielleicht ist er jetzt bereits stärker als wir«, bemerkte ich. »Wo Geser schon die Sprache auf die Initiierung von Nadja gebracht hat…«

Swetlana nickte. »Keine sehr verlockende Perspektive. Ob Edgar selbst vielleicht das Fuaran benutzt hat? Und jetzt diese Komödie aufzieht und so tut, als suche er den Täter. Sein Verhältnis zu Viteszlav war ausgesprochen kompliziert, Edgar ist sehr verschlossen… und jetzt wollte er eben der stärkste Andere weltweit werden…«

»Wozu brauchte er dann das Buch?«, konterte ich. »Er hätte es vor Ort lassen können, und Schluss! Wir hätten nicht mal mitgekriegt, dass Viteszlav ermordet worden ist. Sondern alles den Verteidigungszaubern zugeschrieben, die der Vampir nicht beachtet hat.«

»Du bringst mich auf einen Gedanken«, meinte Swetlana. »Der Mörder hat offensichtlich nicht die Kraft gebraucht. Oder nicht nur die Kraft. Er braucht auch das Buch.«

Plötzlich fiel mir Semjon ein. »Es muss jemanden geben, den der Mörder zum Anderen machen will!«, sagte ich. »Er hat gewusst, dass man ihm nicht erlauben würde, das Buch zu benutzen. Deshalb hat er Viteszlav umgebracht… Im Moment spielt keine Rolle, wie. Er hat das Ritual vollzogen und ist zu einem sehr starken Anderen geworden. Dann hat er das Buch versteckt… irgendwo hier, auf dem Bahnhof. Und jetzt hofft er, es rauszubringen.«

Swetlana streckte die Hand nach mir aus, und wir drückten uns über den Tisch hinweg triumphierend die Hände.

»Nur, wie bringt er es raus?«, hakte Swetlana nach. »Hier und jetzt sind die beiden stärksten Magier Moskaus vor Ort…»

»Drei«, korrigierte ich sie.

Swetlana runzelte die Stirn. »Dann sogar vier«, entgegnete sie. »Kostja ist immerhin ein Hoher…«

»Ein Rotzbengel ist er, wenn auch ein Hoher…«, murmelte ich. Irgendwie wollte mir nicht in den Kopf, dass der Junge innerhalb weniger Jahre ein Dutzend Menschen umgebracht hatte.

Noch widerwärtiger war, dass wir ihm dafür die Lizenz erteilt hatten.

Swetlana wusste, woran ich dachte. Sie streichelte meine Hand. »Nimm's nicht so schwer«, sagte sie leise. »Er kann nicht gegen seine Natur handeln. Was hättest du tun sollen? Ihn ermorden?«Ich nickte.

Natürlich hätte ich das niemals fertig gebracht. Aber das wollte ich nicht einmal mir selbst eingestehen.

Leise ging die Tür auf, und Geser, Sebulon, Edgar und Kostja kamen herein. Und Olga. Angesichts der Tatsache, dass sie alle

lebhaft miteinander diskutierten, musste Olga schon im Bilde sein.

»Edgar hat erlaubt, Reserveleute hinzuzuziehen…«, sagte Swetlana leise. »Die Sache sieht nicht gut aus.«

Die Magier kamen an unseren Tisch. Mir fiel auf, wie alle rasch den Blick über den»Kompass«gleiten ließen. Kostja ging zum Tresen und bestellte ein Glas Rotwein. Die Frau dahinter lächelte ihn an. Ob er seinen vampirischen Charme spielen ließ oder ob er ihr einfach gefiel? Ach, Frau… du solltest diesen Jungen nicht anlächeln, der sonst was bei dir hervorruft: Mutterinstinkte oder durch und durch weibliche Gefühle. Denn dieser Junge kann dich so küssen, dass dir das Lächeln für ewig auf dem Gesicht gefriert…