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»Kostja und die Inquisitoren haben alle Schließfächer durchsucht«, sagte Geser. »Nichts.«

»Wir haben den ganzen Bahnhof durchgekämmt«, berichtete Sebulon mit freundlichem Lachen. »Sechs Andere, die ganz klar nichts mit der Sache zu tun haben.«

»Und ein nicht initiiertes Mädchen…«, fügte Olga hinzu, das Lächeln erwidernd. »Ja, ja, das habe ich bemerkt. Um sie werden wir uns später noch kümmern.«

Sebulon lächelte noch breiter - ich musste im Cafe des Lächelns gelandet sein. »Tut mir leid, Große, aber um sie kümmert man sich gerade.«

In einer normalen Situation wäre das Gespräch an diesem Punkt erst richtig losgegangen!

»Es reicht, Ihr Großen!«, brüllte Edgar. »Es geht hier nicht um eine potenzielle Andere. Es geht hier um unsere Existenz!«

»Völlig richtig«, pflichtete ihm Sebulon bei. »Wollen Sie mir nicht helfen, Boris Ignatjewitsch?«

Geser und er rückten einen weiteren Tisch an unseren heran. Kostja schleppte schweigend Stühle herbei, und dann saßen wir alle beieinander. Eine ganz normale Sache: Menschen fahren in den Urlaub oder gehen auf Geschäftsreise, schlagen vorher im Bahnhofscafe die Zeit tot…

»Entweder ist er nicht hier, oder er kann sich sogar vor uns tarnen«, sagte Swetlana. »So oder so würde ich darum bitten, mich zurückziehen zu dürfen. Wenn etwas sein sollte, ruft mich einfach.«

»Mit deiner Tochter ist alles in Ordnung«, krächzte Sebulon. »Da gebe ich dir mein Wort drauf. »

»Wir könnten dich brauchen«, unterstützte Geser ihn. Swetlana seufzte.

»Geser, wirklich, lassen Sie Swetlana gehen«, bat ich. »Ihnen ist doch klar, dass es nicht Kraft ist, die wir jetzt brauchen. »

»Sondern?«, wollte Geser wissen.

»Gerissenheit und Geduld. Was das Erste angeht, da sind Sie und Sebulon unschlagbar. Und das Zweite dürfen Sie von einer besorgten Mutter niemals erwarten.«

Geser schüttelte den Kopf und schielte zu Olga hinüber. Die kaum merklich nickte.

»Fahr zu deiner Tochter, Sweta«, sagte Geser. »Du hast Recht. Wenn was ist, ruf ich dich und hänge dir ein Portal auf.«

»Dann gehe ich mal«, sagte Swetlana. Kurz beugte sie sich zu mir rüber, berührte mit den Lippen meine Wange - und löste sich in Luft auf. Das Portal war so winzig, dass ich es nicht mal bemerkt hatte.

Die Menschen im Cafe hatten das Verschwinden Swetlanas überhaupt nicht mitbekommen. Für sie waren wir unsichtbar, denn sie wollten uns nicht sehen.

»Sie ist stark«, sagte Sebulon. Er streckte die Hand aus, nahm sich Kostjas Glas, das der Vampir nicht angerührt hatte, und nippte daran. »Du wirst wissen, was du tust, Geser… Was weiter, Herr Inquisitor?«

»Wir warten«, antwortete Edgar bloß. »Er wird kommen, um das Buch zu holen.«

»Oder sie«, korrigierte Sebulon ihn. »Oder sie…«

Wir bildeten keinen operativen Stab. Sondern saßen einfach im Cafe, aßen etwas, tranken etwas. Kostja bestellte Fleisch á la Tatar. Die Tresenfrau wollte sich schon wundern, flitzte aber nur sofort in die Küche. Kurz darauf sprang ein junger Mann heraus und lief los, um Fleisch zu besorgen.

Geser bestellte Hühnchen nach Kiewer Art. Die übrigen begnügten sich mit Wein, Bier und Kleinigkeiten wie getrockneten Tintenfischringen und Pistazien.

Ich saß da, beobachtete, wie Kostja das fast rohe Fleisch verputzte, und dachte über das Verhalten des unbekannten Täters nach. »Suchen Sie das Motiv!«, hatte Sherlock Holmes uns beigebracht. Wenn wir das Motiv finden, haben wir auch den Täter. Sein Ziel besteht nicht darin, der allerstärkste Andere zu werden. Das war er schon oder konnte er jeden Moment werden. Was sonst? Erpressung? Das wäre dumm. Er würde nicht beiden Wachen und der Inquisition seinen Willen aufzwingen können, sondern das gleiche Schicksal nehmen wie Fuaran… Vielleicht wollte der Täter eine eigene, alternative Organisation von Anderen gründen? In Petersburg war in diesem Frühling die Organisation der»Wilden Dunklen«zerschlagen worden… Mit großer Mühe. Das schlechte Beispiel könnte Schule gemacht, ansteckend auf jemanden gewirkt haben. Und das Schlimmste: Das konnte sogar ein Lichter sein. Der eine neue Nachtwache gründen wollte. Eine Superwache. Um die Dunklen samt und sonders zu vernichten, die Inquisition zu zerschlagen und einen Teil der Lichten auf die eigene Seite zu ziehen…

Schlecht. Sehr schlecht - falls es stimmen sollte. Die Dunklen würden sich nicht ohne Kampf ergeben. In der Welt von heute, die mit Massenvernichtungswaffen, Chemiefabriken und Kernkraftwerken gespickt ist, könnte ein Schlag von ihnen die ganze Welt vernichten. Die Zeiten, in denen der Stärkere gesiegt hat, sind vorbei. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben, diese Zeiten…»Die Nadel«, sagte Edgar. »Seht doch mal!«

Mein»Kompass«hörte auf, sich wie ein Ventilator aufzuführen. Die Nadel verlangsamte ihre Drehungen. Erstarrte, zitterte - und drehte sich langsam, um dann eine Richtung anzuzeigen.

»Yes!«, rief Kostja und stand auf. »Jetzt schnappen wir ihn uns!«

Den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich in ihm wieder den kleinen Vampir, der noch kein Menschenblut gekostet hatte und überzeugt war: Für die Kraft muss man niemals irgendwas bezahlen…

»Dann los, meine Herren.«Edgar sprang auf. Sah auf die Nadel, folgte der Richtung mit dem Blick - und stieß auf die Wand. »Zu den Zügen«, verkündete er voller Überzeugung.

Drei

Eine typische Bahnhofsszene: Über die Bahnsteige hastete eine Hand voll Menschen, die versuchten herauszukriegen, von wo ihr Zug abfährt - wenn er nicht schon längst abgefahren war. Aus irgendeinem Grund übernahmen die Rolle der Zuspätkommenden am häufigsten entweder als Shuttles arbeitende Frauen, die mit gestreiften Plastiktaschen beladen waren, oder - das absolute Gegenteil von ihnen - intelligente Menschen, die lediglich einen Aktenkoffer von Samsonite und ein ledernes Handtäschchen bei sich trugen.

Wir gehörten zu einer exotischen Unterart der zweiten Kategorie: Gepäck hatten wir überhaupt nicht, äußerlich wirkten wir in erster Linie seltsam, dabei aber respekteinflößend.

Auf dem Bahnsteig fing die Nadel wieder an, sich zu drehen: Wir näherten uns dem Buch.

»Er versucht abzuhauen«, verkündete Sebulon triumphierend. »Also… klären wir als Erstes, welche Züge abfahren…«

Der Blick des Dunklen verschleierte sich, als er in die Zukunft sah, um festzustellen, welcher Zug als nächster abfahren würde.

Ich studierte die Informationstafel, die hinter mir hing. »Jetzt fährt der Zug Moskau - Almaty ab. In fünf Minuten. Von Gleis 2.«

Sebulon kehrte aus seinen seherischen Gefilden zurück. »Ein Zug nach Kasachstan von Gleis 2«, teilte er uns mit. »In fünf Minuten.«

Er machte eine sehr zufriedene Miene. Kostja schnaubte kaum hörbar.

Geser starrte demonstrativ auf die Tafel. »Ja, du hast Recht, Sebulon…«, sagte er. »Der nächste geht dann erst in einer halben Stunde.«

»Halten wir den Zug auf und durchkämmen alle Abteile«, schlug Edgar schnell vor. »Ja?«

»Sind deine Jungs imstande, den Anderen zu finden?«, fragte Geser. »Wenn er sich maskiert? Wenn er ein Magier außerhalb jeder Kategorie ist?«

Von einer Sekunde zur nächsten fiel Edgar in sich zusammen. Er schüttelte den Kopf.

»Siehst du«, meinte Geser nickend. »Das Buch ist im Bahnhof gewesen. Er ist im Bahnhof gewesen. Doch wir haben weder das Fuaran noch den Täter aufspüren können. Woher nimmst du die Gewissheit, dass es im Zug leichter wäre?«

»Wenn er im Zug ist, wäre es am einfachsten, den Zug in die Luft zu sprengen«, bemerkte Sebulon. »Dann hätten unsere Probleme ein Ende.«Stille senke sich herab. Geser schüttelte den Kopf.

»Mir ist klar, dass das eine unangenehme Entscheidung ist«, meinte Sebulon. »Mir gefällt sie ja auch nicht. Weshalb sollten wir einfach so Tausende von Menschenleben auslöschen… Aber haben wir denn eine Wahl? »

»Was schlägst du vor, Großer?«, fragte Edgar.