Выбрать главу

Was sie wohl empfinden mögen, die Bürger des heute unabhängigen Landes, wenn sie auf ihre ehemalige Hauptstadt blicken? Ob ihnen die Unabhängigkeit wirklich Genugtuung verschafft? Oder ob sie nicht doch Nostalgie befällt?

Keine Ahnung. Fragen kannst du sie nicht, und selbst wenn du fragst, wäre nicht gesagt, dass du eine ehrliche Antwort bekommst. Und in ihr Bewusstsein eindringen, sie zwingen, die Wahrheit zu sagen, das ist nicht mein Ding.

Sollen sie sich ruhig freuen und stolz sein - auf ihre Unabhängigkeit, ihren eigenen Staat, ihre Korruption. Als man vor kurzem in St. Petersburg das dreihundertjährige Bestehen der Stadt gefeiert hat, machte ein Wort die Runde-. »Sollen sie uns doch nach Strich und Faden bestehlen - immerhin sind es unsere Diebe, keine Moskauer.«Warum sollten Kasachen und Usbeken, Ukrainer und Tadschiken nicht dieselben Gefühle hegen? Wenn schon innerhalb eines Landes ein Graben zwischen den Republiken und Städten verläuft, was sollte man dann den Nachbarn aus der einstigen Wohngemeinschaft vorwerfen? Man sondert sich ab, wenn man ein Zimmer mit Fenster zur Ostsee hat, die stolzen Georgier und die Kirgisen mit der einzigen Hochgebirgs-Kriegsflotte der Welt - alle haben mit Freuden abgespalten. Am Ende bleibt dann nur eine große Küche übrig, Russland nämlich, wo früher einmal in einem einzigen imperialen Kessel die verschiedenen Völker gekocht wurden. Ach ja. Was will man da schon machen. Wir haben zu Hause Gas. - Und ihr, werdet ihr da nicht ganz blass?

Sollen sie sich doch freuen. Sollen es sich doch alle gut gehen lassen. Sowohl die mit ihrem Jubiläum beglückten Petersburger - denn ein solches Fest reicht bekanntlich für ein ganzes Jahrhundert - wie auch die Kasachen und Kirgisen, die jetzt erstmals ihren eigenen Staat haben, wobei sie natürlich eine Unmenge an Beweisen für ihre Staatlichkeit in der Vergangenheit vorgebracht haben. Und auch unsere slawischen Brüder sollen es sich gut gehen lassen, die so unter der Existenz des großen Bruders gelitten haben, und nicht zuletzt wir, die Russen, die wir uns mit Feuereifer verachten: die Moskauer die Provinzler und umgekehrt.

Einen Moment lang empfand ich zu meiner eigenen Überraschung Ekel. Nein, nicht vor den hier mitfahrenden Kasachen oder meinen russischen Mitbürgern. Vor den Menschen. Vor allen Menschen auf der Welt. Womit beschäftigen wir von der Nachtwache uns denn? Abgrenzen und schützen? Quatsch! Nicht ein Dunkler, nicht eine Tagwache fügt den Menschen so viel Böses zu wie sie sich selbst. Was ist schon ein hungriger Vampir im Vergleich zu einem stinknormalen Verrückten, der in Fahrstühlen kleine Mädchen vergewaltigt und ermordet? Was ist eine mitleidlose Hexe, die gegen Geld Unheil wirkt, im Vergleich mit einem humanen Präsidenten, der Langstreckenraketen losschickt - wegen Öl? Verflucht seien sie alle…

Ich blieb vor der Waggontür stehen, ließ Kostja vorbei. Erstarrte, glotzte auf den vollgerotzten Boden, wo sich bereits das erste Dutzend stinkender Kippen angesammelt hatte. Was war nur mit mir los? Hatte ich diese Gedanken?

O nein, ich brauchte mir da nichts vorzumachen. Das waren meine, keine fremden. Niemand kroch in meinen Kopf hinein, selbst ein Hoher Anderer hätte das nicht unbemerkt geschafft. Das war ich. Pur. Ein ehemaliger Mensch. Ein sehr müder, von allem auf der Welt enttäuschter Lichter.

In diesen Fällen gehen Andere zur Inquisition. Wenn du den Unterschied zwischen Lichten und Dunklen nicht mehr bestimmen kannst. Wenn die Menschen für dich nicht mal mehr eine Hammelherde sind, sondern eine Hand voll Spinnen im Glas. Wenn du nicht mehr daran glaubst, dass alles besser wird, sondern nur noch eins willst: den Status quo erhalten. Für dich. Für die wenigen, an denen dir noch liegt.

»Ich will nicht«, sagte ich, gleichsam als rezitiere ich einen Zauberspruch, als höbe ich einen unsichtbaren Schild gegen meinen Feind - der ich selbst war. »Ich will nicht! Du hast… keine Macht… über mich… Anton Gorodezki!«

Zwei Türen und vier dicke Scheiben weiter drehte Kostja sich um und sah mich verständnislos an. Hatte er etwas gehört? Oder konnte er sich einfach keinen Reim darauf machen, warum ich nicht nachkam?

Mit einem verkrampften Lächeln öffnete ich die Tür und ging in den rumpelnden Ziehharmonikadurchgang zwischen den beiden Waggons.

Der Waggon des Zugführers genoss in der Tat eine Vorzugsstellung. Saubere kleine Teppiche auf dem Fußboden, ein Läufer im Gang. Weiße Vorhänge vor den Fenstern, weiche Matratzen, die nicht an jenen mit Maiskolben gestopften Sack des Negers Jim denken ließen.

»Wer schläft unten? Wer oben?«, erkundigte sich Edgar geschäftig.

»Mir ist es egal«, antwortete Kostja.

»Ich würde lieber oben schlafen«, sagte ich.

»Ich auch«, meinte Edgar. »Dann wäre das klar.«Höflich klopfte jemand an der Tür.

»Herein!«Der Inquisitor wandte nicht einmal den Kopf um.

Es war der Zugführer - mit einem Tablett in der Hand, auf dem ein vernickelter Kessel mit heißem Wasser, eine kleine Kanne mit Teesud, Tassen, Waffelgebäck und sogar ein Päckchen Kondensmilch standen. Ein ernster Mann, kräftig, mit einem prächtigen Schnurrbart und einer Uniform, die wie angegossen saß.

Das Gesicht war jedoch so einfältig wie bei einem neugeborenen Hündchen. »Lassen Sie sich den Tee schmecken, meine lieben Gäste!«

Alles klar. Die Wirkung des Amuletts. Letzten Endes drückte die Tatsache, dass Edgar ein Dunkler war, seiner Arbeitsweise eben doch einen Stempel auf.

»Vielen Dank. Informieren Sie uns bitte über alle, die in Moskau eingestiegen sind und vor Almaty aussteigen, mein Bester«, bat Edgar, während er dem Mann das Tablett abnahm. »Vor allem über diejenigen, die nicht an ihrem Ziel aussteigen, sondern früher.«

»Wird gemacht, Euer Wohlgeboren«, meinte der Zugführer mit einem Nicken. Kostja kicherte.

Ich wartete, bis der arme Kerl wieder draußen war. »Euer Wohlgeboren - was soll das?«, fragte ich dann.

»Woher soll ich das wissen?«Edgar zuckte mit den Schultern. »Das Amulett zwingt die Menschen zu Gehorsam. Aber es ist einzig und allein ihre Sache, wen sie dann in mir sehen: einen gestrengen Revisor, den heißgeliebten Opa, einen Schauspieler, den sie verehren, oder den Generalissimus Stalin. Der da muss Akunin gelesen haben. Oder sich alte Filme anschauen.«Kostja schnaubte.

»Das ist nicht lustig«, blaffte Edgar. »Aber auch nicht schrecklich. Es ist die Methode, die die Psyche der Menschen am meisten schont. Die Hälfte der Geschichten, wie jemand den Fernsehmoderator Jakubowitsch im Auto mitnimmt oder Gorbatschow seinen Platz in einer Schlange anbietet, ist solchen Manipulationen zuzuschreiben.«

»Deswegen lache ich ja gar nicht«, erklärte Kostja. »Ich habe Sie mir in der Uniform eines weißgardistischen Offiziers vorgestellt… Chef. Sie flößen wirklich Respekt ein.«

»Lach nur, lach…«, sagte Edgar, während er sich Kaffee einschenkte. »Was macht der»Kompass«?«

Schweigend legte ich den Brief auf den Tisch. Das ZwielichtBild hing sich in die Luft - ein runder»Kompass«, eine sich langsam drehende Nadel.

Ich goss mir Tee ein und trank einen Schluck. Der Tee war gut. Mit Liebe gemacht, wie es sich gehört, wenn man ihn»Wohlgeboren«serviert.

»Er ist also im Zug, der Mistkerl…«, seufzte Edgar. »Meine Herren, ich werde euch unsere Alternativen nicht vorenthalten. Entweder wir fassen den Täter oder wir müssen den Zug eliminieren. Zusammen mit allen Passagieren.«

»Wie?«, wollte Kostja sachlich wissen.

»Es gibt verschiedene Varianten. In der Nähe des Zuges könnte eine Gasleitung explodieren, ein Jagdflugzeug könnte versehentlich eine Rakete abwerfen… im Extremfall wird diese Rakete einen Atomsprengkopf haben.«

»Edgar!«Alles in mir wollte glauben, dass er bloß in allzu dicken Farben auftrug. »Im Zug sitzen mindestens fünfhundert Menschen.«