»Leicht darüber«, korrigierte mich der Inquisitor. »Das dürfen wir nicht tun!«
»Wir dürfen das Buch nicht verlieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass ein prinzipienloser Anderer sich eine Garde aufbaut und sich daran macht, die Welt nach seinem Gusto umzubauen. »
»Aber wir wissen doch gar nicht, was er will!«
»Wir wissen, dass er ohne zu zögern einen Inquisitor umgebracht hat. Wir wissen, dass er sehr stark ist und ein uns nicht bekanntes Ziel verfolgt. Was hat er in Zentralasien verloren, Gorodezki?«Ich zuckte mit den Achseln.
»Dort gibt es eine Reihe von alten Kraftzentren…«, murmelte Edgar. »Ein paar spurlos verschwundener Artefakte, einige schlecht zu kontrollierende Gebiete… Was noch? »
»Eine Milliarde Chinesen«, mischte sich Kostja plötzlich ein. Die Dunklen starrten einander an.
»Du bist ja völlig verrückt geworden…«, brachte Edgar unsicher hervor.
»Eine Milliarde und ein paar Zerquetschte«, präzisierte Kostja amüsiert. »Was, wenn er vorhat, sich von Kasachstan aus nach China durchzuschlagen? Eine Armee könnte er da aufbauen! Eine Milliarde Andere! Dann gibt es noch Indien…«
»Nun krieg dich mal wieder ein«, winkte Edgar ab. »Kein Idiot würde so etwas versuchen. Woher will er Kraft schöpfen, wenn er ein Drittel der Bevölkerung zu Anderen macht?«
»Vielleicht ist er ein Idiot?«, gab Kostja nicht nach.
»Deshalb greifen wir ja auch zu extremen Maßnahmen«, fuhr Edgar ihn an.
Was sie sagten, meinten sie ernst. Ohne jeden Zweifeclass="underline" Sie durften diese manipulierten Waggonbetreuer, dickwangigen Geschäftsreisenden und die armen Menschen in den Waggons dritter Klasse ermorden. Was sein muss, muss sein. Ein Landwirt, der das an Maul- und Klauenseuche erkrankte Vieh schlachten muss, leidet schließlich auch darunter.
Irgendwie stand mir der Sinn nicht mehr danach, Tee zu trinken. Ich erhob mich und verließ das Abteil. Edgar schickte mir einen wissenden, aber keinesfalls mitfühlenden Blick hinterher.
Im Waggon war es bereits ruhiger geworden, die Leute bereiteten sich auf die Nacht vor. Einige Abteiltüren standen zwar noch offen, irgendjemand drückte sich im Gang zwischen zwei Waggons herum und wartete, bis die Toilette frei wurde, irgendwo war zu hören, wie Leute anstießen; die meisten Mitreisenden aber hatte Moskau sehr müde gemacht.
Ungerührt ließ ich mir den Gedanken durch den Kopf gehen, dass nach allen Gesetzen des Melodramas jetzt engelsgleiche Kinderchen mit unschuldigen Gesichtern durch den Gang rennen müssten. Damit mir die Perversität von Edgars Plan so richtig aufginge…
Kinder kamen keine vorbei. Stattdessen spähte aus einem Abteil ein fetter Kerl in verwaschener Trainingshose und ausgeleiertem Hemd heraus. Das rote, verschwitzte Gesicht war durch den bereits genossenen Alkohol schon aufgedunsen. Der Mann schaute mit trübem Blick durch mich hindurch, hickste und zog sich ins Abteil zurück.
Meine Hände griffen ganz von selbst nach dem MD-Player. Ich stöpselte mir die Kopfhörer in die Ohren, legte aufs Geratewohl eine Scheibe ein und presste mich ans Fenster. Ich sah nichts, ich hörte nichts. Und - aber das verstand sich von selbst - ich sagte nichts.
Eine leise, sanfte Melodie erklang, eine zarte Stimme sang.
Ach ja, von Lass, meinem Bekannten aus dem Assol. Die Scheibe hatte er mir geschenkt. Grinsend stellte ich den Ton lauter. Das war's, was ich jetzt brauchte…
Wow, das ging ab… Oberpunk. Da konnte selbst Schnur mit den überdrehten Schreihälsen abstinken…
Eine Hand schlug mir auf die Schulter.
»Jeder entspannt auf seine Weise, Edgar«, murmelte ich.
Jemand pikte mich leicht in die Rippen.
Ich drehte mich um.
Und erstarrte.
Vor mir stand Lass. Zufrieden grienend und im Takt tanzend: Hatte ich die Musik also doch zu laut eingestellt.
»Ach nee!«, rief er begeistert, sobald ich die Kopfhörer ausgestöpselt hatte. »Da gehst du so durch den Waggon, nichts Böses ahnend - und plötzlich hört da jemand deine Songs! Was machst du denn hier, Anton?«
»Ich fahr weg…«, konnte ich nur herausbringen, während ich den MD-Player ausschaltete.
»Wirklich?«, rief Lass begeistert. »Ich wär im Leben nicht darauf gekommen, dich hier zu treffen! Wohin fährst du? »
»Nach Alma-Ata.«
»Das heißt jetzt Almaty!«, dozierte Lass. »Aber gut, setzen wir unser Gespräch fort. Warum fliegst du nicht?«
»Warum fliegst du nicht?«Allmählich ging mir auf, dass das Ganze mich an ein Verhör erinnerte.
»Ich bin aerophob«, verkündete Lass stolz. »Gut, wenn es unbedingt sein muss, hilft mir ein Liter Whisky, an die Aerodynamik zu glauben. Aber das kommt nur äußerst selten vor, wenn ich nach Japan muss oder in die Staaten…, wo keine Züge hinfahren. »
»Bist du geschäftlich unterwegs?«
»Zum Vergnügen«, grinste Lass. »In der Türkei oder auf den Kanaren kann man doch wohl keinen Urlaub machen, oder? Und du? Bist du auf Geschäftsreise?«
»Hm.«Ich nickte. »Ich will in Moskau einen Handel für Kumys und Schubat aufziehen. »
»Was ist denn Schubat?«, wollte Lass wissen.
»Das ist… Kefir aus Kamelmilch. »
»Cool«, begeisterte sich Lass. »Bist du allein unterwegs? »
»Mit Freunden.«
»Wollen wir zu mir gehen? Mein Abteil ist leer. Schubat habe ich zwar nicht, aber deine Stutenmilch werden wir schon auftreiben.«Eine Falle?
Ich betrachtete Lass durchs Zwielicht. So aufmerksam wie möglich. Nicht das kleinste Zeichen eines Anderen.
Entweder war er ein Mensch - oder ein Anderer von unvorstellbarer Kraft. Imstande, sich in allen Schichten des Zwielichts zu tarnen.
Sollten wir doch Glück haben? Stand hier, vor mir, der mysteriöse Dieb des Fuaran!
»Gleich. Ich hol nur noch schnell was«, antwortete ich lächelnd.
»Aber ich hab doch alles!«, protestierte Lass. »Bring deine Freunde ruhig mit. Ich bin im nächsten Waggon, Abteil 2.«
»Sie haben sich schon schlafen gelegt«, tischte ich ihm eine grobe Lüge auf. »Also, es dauert nicht lange…«
Nur gut, dass Lass seitlich von mir stand und nicht sehen konnte, wer im Abteil saß. Ich öffnete die Tür nur einen Spalt und schlüpfte hinein. Lass musste denken, hinter der Tür verberge sich eine halb nackte Frau. »Was ist passiert?«Edgar sah mich forschend an.
»Da ist jemand aus dem Assol«, berichtete ich schnell. »Der Musiker, vielleicht erinnert ihr euch noch an ihn, den wir auch in Verdacht hatten, aber anscheinend ist er kein Anderer… Er hat mich auf ein Gläschen in sein Abteil eingeladen.«
Auf Edgars Gesicht zeichnete sich Jagdfieber ab. Kostja sprang sogar auf. »Schnappen wir ihn uns?«, rief er. »Der wird singen…«
»Stopp.«Edgar schüttelte den Kopf. »Überstürzen wir nichts. Das kann alles Mögliche bedeuten. Anton, nimm das.«
Ich erhielt ein kleines gläsernes Fläschchen, das mit einem kupfernen oder einem bronzenen Draht umwickelt war. Es sah furchtbar alt aus. In der Flasche schwappte eine dunkelbraune Flüssigkeit. »Was ist das?«
»Allergewöhnlichster Armagnac, zwanzig Jahre alt. Aber die Flasche hat es in sich. Die kann nur ein Anderer öffnen.«Edgar grinste. »Im Grunde ist das Firlefanz. Irgendwann vor langer Zeit hat ein Magier all seine Flaschen auf diese Weise verzaubert, damit seine Diener sie ihm nicht stahlen. Wenn dein Bekannter sie öffnen kann, dann ist er ein Anderer.«