»Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung«, sagte ich, griff mir die Flasche und schenkte die dritte Runde aus. »Eine Lok, die sich mit hoher Geschwindigkeit vorwärts bewegt, schafft vor sich eine Art Luftschild. Dieser Schild schlägt Mücken, Schmetterlinge und alles mögliche fliegende Getier k. o. und stößt es in die Luftstrudel hinein, die auf allen Seiten um den Zug herumwirbeln. Daher lieben Fledermäuse es, nachts neben einem fahrenden Zug herzufliegen und die ausgeschalteten Mücken zu fressen.«
Lass dachte darüber nach. »Und warum fliegen dann tagsüber nicht Vögel neben den Zügen her?«
»Das ist genauso einfach!«Ich hielt ihm den Becher hin. »Vögel sind viel dümmere Geschöpfe als Säugetiere. Daher haben Fledermäuse bereits mitgekriegt, wie sie einen Zug zur Nahrungsbeschaffung ausnutzen können, und Vögel eben noch nicht! In hundert, zweihundert Jahren wird auch zu den Vögeln vorgedrungen sein, wie sie von Zügen profitieren können.«
»Und warum bin ich nicht selbst dahintergekommen?«, wunderte sich Lass. »Das ist in der Tat höchst simpel! Also dann… auf einen guten Gedanken!«Wir tranken auf ex.
»Tiere sind eine erstaunliche Sache«, sagte Lass tiefsinnig. »Viel klüger, als Darwin es darstellt. Bei mir lebte mal…«
Was mal bei ihm gelebt hatte, ein Hund, eine Katze, ein Hamster oder ein Aquariumsfisch, bekam ich nicht mehr zu hören. Lass schaute erneut aus dem Fenster und wurde ganz grün im Gesicht.
»Da ist wieder… diese Fledermaus! »
»Sie fängt Fliegen«, erinnerte ich ihn.
»Aber was für Fliegen! Sie fliegt hinter dem Zug her wie auf Befehl! Ich sage dir, groß wie ein ausgewachsener Schäferhund!«
Lass stand auf und zog mit einer energischen Bewegung das Rouleau herunter. »Zum Teufel mit… Ich weiß ja, man soll abends nicht King lesen… Das nenn ich Fledermaus! Der reinste Pterodaktylus! Die fängt Eulen und Uhus, aber keine Mücken!«
Kostja ist doch ein Monster! Freilich, ein Vampir in Tiergestalt ist ebenso wie ein Werwolf ein Schwachkopf, der sich nicht mehr unter Kontrolle hat. Vermutlich gefiel es ihm, so um den nächtlichen Zug herumzufliegen, durch die Fenster zu spähen und auf Lichtmasten Pause zu machen. Aber die grundlegenden Vorsichtsmaßregeln durfte er dabei doch nicht einfach außer Acht lassen!
»Das sind Mutationen«, hatte Lass inzwischen befunden. »Strahlenbelastung, Risse im Reaktor, elektromagnetische Wellen, Funktelefone… Und wir lachen die ganze Zeit darüber, sagen, das ist Science Fiction… Dann noch die ständigen Lügen in den Boulevardblättern. Wenn ich das jemandem erzählen würde, würde der doch denken, ich sei entweder besoffen oder lüge wie gedruckt!«
Entschlossen öffnete er seinen Kognak. »Glaubst du eigentlich an Mystik?«, fragte er.
»Das tu ich«, antwortete ich würdevoll.
»Ich auch«, gab Lass zu. »Jetzt. Früher nicht…«Ängstlich schaute er zu dem verhangenen Fenster hinüber. »Du lebst so vor dich hin, dann triffst du irgendwo im Moor von Pskow einen lebenden Yeti und drehst völlig durch! Oder du siehst eine meterlange Ratte. Oder…«Er wedelte mit der Hand und goss Kognak in unsere Becher. »Vielleicht leben ja wirklich in deiner Nachbarschaft Hexen, Vampire oder Tiermenschen? Schließlich gibt es keine zuverlässigere Tarnung, als das eigene Erscheinungsbild in die Populärkultur einzuschleusen. Eine Beschreibung in einem belletristischen Werk, eine Darstellung im Film - und schon hörst du auf, schrecklich und geheimnisvoll zu sein. Echter Horror braucht die mündliche Rede, braucht einen alten Opa, der vor seinem Häuschen hockt und mit Angst einflößender Stimme anfängt: »Und dann hat der Herr sich ihm gezeigt und gesagt: Ich lass dich nicht laufen, ich fessel dich, ich schnür dich zusammen, du wirst im Windbruch verfaulen!«So ist dann auch die echte Angst vor anormalen Erscheinungen entstanden! Kinder spüren das übrigens, deshalb erzählen sie auch so gern Geschichten wie die von der Schwarzen Hand und dem Sarg auf Rädern. Die moderne Literatur und vor allem das Kino höhlen diesen instinktiven Horror aus. Wie soll man vor Dracula Angst haben, wenn er schon hundert Mal getötet worden ist? Wie soll man sich vor Außerirdischen fürchten, wenn unsere Leute sie immer in Staub verwandeln? Nein, Hollywood - das ist der große Betäuber der menschlichen Wachsamkeit! Trinken wir auf den Tod von Hollywood, das uns die gesunde Angst vor dem Unbekannten nimmt!«
»Darauf immer!«, sagte ich begeistert. »Was treibt dich eigentlich wirklich nach Kasachstan, Lass? Da kann man doch nicht etwa tatsächlich gut Urlaub machen?«
Lass zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es selbst nicht«, antwortete er. »Plötzlich wollte ich was Exotisches, Kumys im Melkeimer, Kamelreiten, Hammelkämpfe, Hammeleintopf aus einem Kupfernapf, Schönheiten mit ungewöhnlichen Gesichtszügen, baumartige Haschpflanzen in den städtischen Grünanlagen…»
»Was?«, fragte ich begriffsstutzig. »Was für Hasch?«
»Baumartiger. Hasch ist eigentlich ein Baum, nur dass niemand ihn so hoch wachsen lässt«, erklärte Lass mit einem ebenso ernsten Gesicht, wie ich es bei meiner Geschichte über Fledermäuse und sonstiges fliegendes Getier aufgesetzt hatte. »Mir ist das völlig egal, ich versau mir mit Tabak die Gesundheit, aber ich will ein bisschen Exotik…«
Er holte eine Packung Belomor heraus und zündete sich eine Zigarette an. »Gleich kommt der Waggonbetreuer«, warnte ich.
»Der kommt nicht, ich habe ein Kondom über den Rauchmelder gezogen.«Mit einer Kopfbewegung deutete Lass nach oben. Über den aus der Wand herauslugenden Melder war tatsächlich ein leicht aufgeblasenes Kondom gestülpt. Zartrosa, mit Plastiknoppen.
»Trotzdem glaube ich, dass du dir falsche Vorstellungen von der kasachischen Exotik machst«, sagte ich.
»Jetzt ist es zu spät, um darüber nachzudenken, schließlich sitz ich ja schon im Zug«, brummte Lass. »Heute Morgen ist es mir so durch den Kopf geschossen, warum ich eigentlich nicht mal nach Kasachstan fahre. Dann habe ich meine Sachen zusammengepackt, meinen Stellvertreter instruiert - und ab in den Zug.«Ich merkte auf.
»Du bist einfach so los? Bist du immer so spontan?«
Lass dachte nach. Schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Aber diesmal hat es mich irgendwie angepikt… Ach, lassen wir das. Genehmigen wir uns lieber noch ein letztes Schlückchen…«
Während er eingoss, schaute ich ihn mir abermals durchs Zwielicht an.
Selbst jetzt, da ich wusste, wonach ich suchte, nahm ich nur mit Mühe die Spur wahr - so elegant und leicht war die Berührung des unbekannten Anderen gewesen. Eine Spur, die bereits verlosch, die fast erkaltet war.
Eine einfache Intervention, zu der selbst der schwächste Andere in der Lage ist. Aber unglaublich akkurat!
»Gut«, stimmte ich zu. »Mir fallen die Augen auch schon zu… Aber ich hoffe, wir quatschen noch mal miteinander.«
In der nächsten Stunde durfte ich an Schlaf allerdings nicht denken. Mir stand ein Gespräch mit Edgar bevor, möglicherweise auch eins mit Geser.
Vier
Betrübt blickte Edgar auf die Scherben der Flasche. Leider eignete sich seine Aufmachung jedoch so gar nicht, schweren Kummer auszudrücken: weite, fröhlich bedruckte Unterhosen, ein ausgeleiertes Hemd und ein zwischen Unterhose und Hemd hervorlugendes Bäuchlein. Um ihr körperliches Erscheinungsbild sorgen sich Inquisitoren nicht sehr, sie vertrauen offenbar ganz auf kraftvolle Magie.
»Du bist hier nicht in Prag«, versuchte ich ihn zu trösten. »Das ist Russland. Wenn sich eine Flasche nicht ergibt, wird ihr hier der Hals umgedreht.«
»Jetzt muss ich eine Erklärung schreiben«, sagte Edgar finster. »Die Bürokraten in Tschechien sind nicht besser als die in Russland. »
»Dafür wissen wir jetzt aber, dass Lass kein Anderer ist.«
»Nichts wissen wir«, brummte der Inquisitor mürrisch. »Ein positives Resultat wäre eindeutig gewesen. So ist es ein negatives… nun, es könnte schließlich sein, dass er als sehr starker Anderer die Falle gespürt hat. Und sich dann einen Scherz erlaubt hat… zumindest was er dafür hält.«