Letzten Endes bin ich doch ein Dummkopf. Ich hatte ihn für einen Freund oder einen Feind gehalten. Doch er war keins von beiden. Er gedachte lediglich seine Wahrheit zu beweisen. Und wie es der Zufall so wollte, sollte ich als Mittel der Beweisführung dienen. Schon kein Freund mehr, aber noch kein Feind. Sondern nur der Träger einer alternativen Wahrheit. »Hat er sich mit Teleportation davongemacht?«, fragte Lass.
»Was?«Ich drehte mich um und sah ihn an. »Nun… etwas in der Art. Er hat ein Portal geöffnet und ist verschwunden. Wie bist du dahintergekommen?«
»In einem Computerspiel habe ich mal etwas gesehen, das kam dem hier ziemlich nahe…«, sagte Lass leicht zweifelnd. Um dann verärgert zu präzisieren: »Sehr nahe!«
»Diese Spiele werden nicht nur von Menschen gemacht…«, erklärte ich. »Ja, er ist verschwunden. Nach Baikonur. Er möchte einen Weltraumtouristen ersetzen…»
»Das habe ich gehört«, sagte Lass. »So ein Idiot. »
»Ist dir klar, warum er ein Idiot ist?«, fragte ich.
Lass schnaubte. »Wenn alle Menschen Magier werden… Heute pöbelt man dich in der Straßenbahn an, und morgen verbrennt man dich auf der Stelle zu Asche. Heute zerkratzt man einem unangenehmen Nachbarn die Tür mit einem Nagel oder denunziert dich beim Finanzamt, morgen wirkt man irgendein Unheil oder saugt ihm das Blut aus. Ein Affe auf einem Motorrad ist nur im Zirkus amüsant, nicht im Straßenverkehr… Und schon gar nicht, wenn der Affe eine Maschinenpistole in der Hand hat.«
»Glaubst du, dass die Mehrheit aus Affen besteht?«, wollte ich wissen.
»Wir alle sind Affen.«
»Dein Weg führt in die Wache«, murmelte ich. »Wart mal gerade… ich muss mir Rat holen.«
»Was für eine Wache?«, fragte Lass misstrauisch. »Vielen Dank auch! Glücklicherweise bin ich nämlich kein Magier!«
Ich schloss die Augen und lauschte. Stille.
»Geser!«
Stille.
»Geser! Lehrer!«
»Wir beratschlagen gerade, Anton.«
In einem telepathischen Gespräch fehlt jede Intonation. Und trotzdem… trotzdem witterte ich einen Hauch von Müdigkeit in Gesers Worten.
»Er ist nach Baikonur unterwegs. Das Fuaran funktioniert wirklich. Er will alle Menschen auf der Welt in Andere verwandeln!«
Ich verstummte, weil ich begriff: Geser wusste bereits Bescheid. Er hatte alles, was passiert war, angesehen und angehört - ob mit meinen Augen und meinen Ohren oder mit sonstigen magischen Methoden, was spielte das für eine Rolle. »Du musst ihn aufhalten, Anton. Folge ihm und halte ihn auf. »
»Und Sie?«
»Wir halten den Kanal aufrecht, Anton. Versorgen dich mit Kraft. Weißt du, wie viele Andere ihre Kraft für die»graue Andacht«gegeben haben? »
»Ich ahne es.«
»Anton, ich kann mich nicht mit ihm messen. Sebulon auch nicht. Und auch Swetlana nicht. Wir können jetzt nur noch eins machen: dich mit Energie versorgen. Wir ziehen aus allen Anderen Moskaus Kraft. Falls nötig, fangen wir an, sie direkt bei den Menschen abzupumpen. Wir haben keine Zeit, jetzt noch was umzuorganisieren oder weitere Magier als Leiter hinzuziehen. Du bist es, der Kostja aufhalten muss… mit unserer Hilfe. Die Alternative wäre ein Atomangriff auf Baikonur. »
»Ich kann kein direktes Portal öffnen, Geser.«
»Doch. Das Portal ist noch nicht endgültig wieder geschlossen. Du musst den Eingangsschacht finden und es erneut aktivieren.«
»Überschätzen Sie mich nicht, Geser! Selbst mir Ihrer Hilfe bin ich nur ein Magier zweiten Grades!«
»Wach auf, Anton. Du hast Sauschkin gegenübergestanden, als er den Zauberspruch rezitiert hat. Du bist über den zweiten Grad hinaus. »
»Und welchen…?«
»Über dem ersten gibt es nur noch eine Kategorie. Die höchste. Schluss jetzt mit dem Gerede! Folge ihm! »
»Aber wie kann ich ihn besiegen? »
»Wie du willst.«Ich öffnete die Augen.
Lass stand vor mir und fuchtelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.
»Oh! Er lebt noch!«, freute er sich. »Was ist das für eine Wache? Und soll das heißen, dass ich jetzt auch ein Magier bin? »
»Fast.«Ich machte einen Schritt nach vorn.
Hier hatte Kostja gestanden… er war hingefallen… hatte die Arme ausgebreitet… das Portal war entstanden… Die Menschenwelt war leer.
Wind ging, die zerknüllte Zellophanhülle einer Zigarettenschachtel raschelte über den Beton… Das Zwielicht war leer.
Die graue Finsternis, die steinernen Klötze anstelle des elastischen, wabernden Geflechts aus blauem Moos… Die zweite Schicht des Zwielichts.
Der schwere schieferfarbene Nebel… das gespenstische tote Licht unter schweren Wolken… ein winziger blauer Funken, wo das Portal gewesen war… Ich streckte die Hand aus -in der Menschenwelt, in der ersten Schicht des Zwielichts, in der zweiten Schicht des Zwielichts… Und erfasste mit den Fingern den ersterbenden blauen Funken.
Halt! Erlisch nicht! Hier bekommst du es mit einer Kraft, mit einer wütenden Energie zu tun, die die Grenzen zwischen den Welten aufhebt. Von meinen Fingern regneten brennende Tropfen. Herab auf die verlöschende Glut…
Wachse, öffne dich, kriech unter die heiße Sonne, denn du musst noch arbeiten! Ich nahm die Spur desjenigen wahr, der das Portal geöffnet hatte. Sah, wie er es gemacht hatte. Konnte seinen Weg nachgehen.
Und ich brauchte dazu nicht einmal mehr Zauber, nicht all diese komischen Formeln in unverständlichen alten Sprachen. Auf die auch die Hexe Arina nicht angewiesen ist, wenn sie ihren Kräutertrunk braut. Auf die auch Geser und Swetlana nicht angewiesen sind. Ist es das, was einen Hohen Magier ausmacht?
Dass er keine Schemata mehr lernen muss, sondern die Bewegung der Kraft spürt? Wie erstaunlich - und wie einfach.
Dabei sind noch nicht mal die Möglichkeiten das Erstaunlichste, nicht die beeindruckende Kraft des Fireballs oder die Stärke des»Freeze«. Denn mit abgezapfter fremder Kraft oder mit kunstvoll angesammelter eigener kann selbst ein gewöhnlicher Magier so loslegen, dass er einen Hohen Mores lehrt. Nein, alles steht und fällt mit der Freiheit. Ein Unterschied wie zwischen einem Schwimmer - und möge er noch so begabt sein - und einem Delphin - selbst wenn dieser extrem träge ist.
Wie schwer muss es für Swetlana gewesen sein, mit mir zusammenzuleben, ihre Kraft zu vergessen, ihre Freiheit zu vergessen? Das lässt sich nicht mit dem Unterschied zwischen stark und schwach vergleichen, sondern nur mit dem zwischen einem Gesunden und einem Invaliden…
Aber die gewöhnlichen Menschen leben doch auch, oder? Zusammen mit Blinden und Lahmen. Denn das Wichtigste ist eben nicht die Freiheit. Freiheit - das ist eine Rechtfertigung für Arschlöcher und Idioten. Wenn die von Freiheit sprechen, denken sie nicht an die Freiheit der andern, sondern an die eigene Sklaverei.
Und selbst Kostja - der kein Idiot und kein Arschloch ist - hängt an jenem Haken, an dem sich schon die Revolutionäre aller Couleur die Lippen aufgerissen haben - von Spartakus bis Trotzki, vom Bürger Robespierre bis zum Commandante Che Guevara, von Jemelka Pugatschow bis zum namenlosen Selbstmordattentäter.
Wäre ich selbst nicht auch daran hängen geblieben? Noch vor fünf oder zehn Jahren?