Um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, behielt Sydow seine Skepsis für sich. Die Sache war noch lange nicht ausgestanden, daran bestand kein Zweifel. Genau genommen ging sie jetzt erst richtig los. »Höchste Zeit, eine zu rauchen!« Er ließ sich lieber nichts anmerken, versetzte Klinke einen Rippenstoß und zog ihn am Ohr. »Oder was meinst du, Dicker?«
»Nur zu, Schnapsleiche–bring dich ruhig um.«
»Noch sauer, Teddy?«
»Steck dir eine an, dann hab ich wenigstens meine Ruhe vor dir!«
»Eye, Eye, Sir!«, feixte Sydow. »Fragt sich nur, wie!«
»Auf gut Deutsch, ich soll anhalten, damit du dir ein paar Sargnägel kaufen kannst.«
»Du hast es erfasst, oh Zierde der Berliner Polizei!«
Klinke grinste, verpasste Sydow einen Schubs und hielt in Sichtweite des Bahnhofs Alexanderplatz an. Mit Ausnahme eines Eisverkäufers, der in Höhe des Kaufhauses ›Wertheim‹ gerade seinen Stand aufbaute, war kein Mensch zu sehen.
Paradoxerweise war es dieser Eisverkäufer, nicht zuletzt aber auch Klinkes Heißhunger auf Süßwaren, der ihm am heutigen Tag das Leben rettete.
Aber das wusste er in diesem Moment noch nicht.
Während Sydow die Straße überquerte, um sich im ›Braustübl‹ mit Zigaretten einzudecken, stieg Klinke ebenfalls aus und schlenderte an der Bushaltestelle vorbei auf den Eisverkäufer zu. Außer ihm befanden sich zwei weitere Personen in der Nähe, zum einen ein distinguierter älterer Herr, zum anderen ein Handelsvertreter, der sich lautstark über die Unpünktlichkeit der Busse mokierte.
Ein Sonntagmorgen, so schien es, wie jeder andere.
Aber das sollte nicht so bleiben.
Lange Zeit später, nachdem alles vorüber war, konnte sich Sydow noch an jedes Detail erinnern. So zum Beispiel daran, wie spät es war, nämlich fast 10.15 Uhr. Des Weiteren daran, dass sein Stammlokal, das an der Straßenecke gegenüber dem Bahnhof Alexanderplatz lag, zu seiner Verwunderung noch geschlossen hatte, er dies aber nicht weiter schlimm fand und gemächlichen Schrittes zu dem Kiosk schlenderte, der sich unmittelbar vor der Bahnunterführung befand. Er konnte sich sogar noch genau an den losen Witz erinnern, den der Kioskbesitzer erzählte, bei dem er sich jeden Morgen die Zeitung holte. Und daran, dass im gleichen Moment ein Zug über ihn hinwegdonnerte, weshalb die Pointe im ohrenbetäubenden Geknatter unterging. Und an Dutzende Menschen, die plötzlich den Bahnhofsvorplatz bevölkerten, von denen sich ein Teil zur Bushaltestelle begab.
Vor allem aber fiel ihm die adrette junge Frau mit dem geblümten weißen Sonntagskleid und dem Kinderwagen auf, die in jenem verhängnisvollen Moment die Straße überquerte, ausgerechnet an der Stelle, wo sich der immer noch herrenlose VW-Kübelwagen befand.
Aber da war es bereits zu spät.
Die Detonation, die den VW in Sekundenbruchteilen atomisierte, war so heftig, dass es Sydow buchstäblich zu Boden schlug, einschließlich der Passanten, die vor dem ›Braustübl‹ auf den Bus warteten. Das dreiteilige Fenster des Lokals ging komplett zu Bruch, Abertausende winziger Glassplitter flogen durch die Luft. Unter den ersten Opfern befand sich ein Taxifahrer, dessen soeben geparkte Limousine zur Seite kippte und ihn unter sich begrub. Die Luft war erfüllt von Rauch, den Schreien der Verletzten, dem Gestank von Öl und ausgelaufenem Benzin. Brandgeruch stieg empor, und dort, wo sich Klinkes VW befunden hatte, waren nur noch rauchende Trümmer zu sehen, aus denen gelblichrote Flammen in die Höhe schossen.
Gerade einmal 10 Sekunden später war Sydow zur Stelle, Klinke nicht viel später. Beide hatten nicht viel abgekriegt, abgesehen von ein paar Schrammen und einem durchdringenden Pfeifton im Ohr. Für die junge, allenfalls 25-jährige Frau mit ihrem knapp einjährigen Töchterchen kam allerdings jede Hilfe zu spät. Sie waren kaum noch zu erkennen, blutüberströmt, verstümmelt, von Wrackteilen durchbohrt.
»Das sollen uns diese Kerle büßen!«, stieß Klinke zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, während er neben der verkohlten Kinderleiche kniete. Sydow nickte stumm. In diesem Augenblick, immer noch halb taub, wusste er nicht, was ihn mehr entsetzte, das Blutbad oder die hasserfüllte Miene seines Assistenten, die mit Erich Kalinke, von Beruf Polizist, nicht mehr das Geringste zu tun hatte.
13
London-Westminster, Cabinet War Rooms | 09.25 h OZ
»Cleverer Bursche, dieser Heydrich, muss ich schon sagen!«, zollte Winston Churchill widerwillig Tribut, führte die Zigarre zum Mund und stieß eine Batterie Rauchkringel in die Luft.
»Aber nicht clever genug für uns!« Auf Sir Stewart Menzies, Chef des Auslandsgeheimdienstes MI6, wirkte Churchills Lob eher deplatziert, und er machte auch keinen Hehl daraus: »Ein übler Ganove, nicht weniger, aber auch nicht mehr!«
Churchill fuhr mit dem Zeigefinger an der Unterlippe entlang und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Um das zu beurteilen, müssten wir erst einmal in den Besitz seines Giftschrankes gelangen!«, sagte der Premier, legte die Hände auf den Tisch und rappelte sich mühsam auf. Dann wandte er sich der überdimensionalen Weltkarte am Kopfende des Kabinettsraumes zu. Seine Laune war nicht die allerbeste, wie immer, wenn er sich in seiner unterirdischen Kommandozentrale befand. »Oder um es prosaischer auszudrücken: Was mich verdammt noch mal interessiert, ist, was dieser Bursche so alles gehortet hat. Oder vielmehr hatte.«
»Was immer es ist, es würde uns in die Lage versetzen, Hitler und Konsorten kräftig eins auszuwischen!«, tat Menzies, dem man seine 52 Jahre kaum anmerkte, seine Meinung unverblümt kund. Der Chef des Auslandsgeheimdienstes war hager, gentlemanlike und stets auf sein Äußeres bedacht, so ziemlich das genaue Gegenteil von Churchill, der trotz allem Wert auf dessen Meinung legte.
»Vorausgesetzt, wir kommen an Heydrichs Geheimunterlagen überhaupt ran!«, entgegnete der Premier denn auch prompt und nebelte die Weltkarte vollständig ein.
»Der in der Tat schwierigste Teil der Übung, Sir.«
»So schwierig, dass unser Spezialagent in Berlin daran scheitern könnte?«
»Der Marder, Sir? Wenn es einer schaffen kann, dann er!«, nahm Menzies seinen besten Mann in Schutz.
»Übrigens–netter Deckname.«
»Und so treffend.«
»In der Tat!« Churchill verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ den Blick über den Machtbereich Hitlers gleiten. Frankreich besetzt, Europa vom Nordkap bis zu den Pyrenäen unter deutscher Kontrolle. Ein nicht enden wollender Albtraum. Der Premierminister seufzte. Wie gut, dass es wenigstens hin und wieder gute Nachrichten gab. »Wie haben Sie es überhaupt geschafft, den Marder auf unsere Seite zu lotsen?«
»Reiner Zufall!«, räumte Menzies freimütig ein.
»Wie darf ich das verstehen?«
Anstatt zu antworten, öffnete der Chef des MI6 eine Kladde, klemmte den Blätterstapel zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände und ließ die Unterkante auf die Tischplatte rutschen. Dann legte er ihn vor sich hin und begann zu lesen: »Sohn wohlhabender Eltern, jüngerer Bruder. Vater Börsenmakler, während der 20er-Jahre teils in Frankfurt, teils in London beruflich aktiv. Selbstmord unmittelbar nach dem Börsencrash. Mutter: alter preußischer Adel, Rechtsauslegerin und Hitler-Fan. Wie im Übrigen zunächst auch ihr Sohn. Ein Zustand, der indes nicht von langer Dauer war.« Menzies schloss die Kladde, erhob sich und trat an Churchills Seite. Dessen Miene war immer noch ernst, doch nicht mehr ganz so deprimiert wie zuvor. »Wie ich an ihn herangekommen bin, Sir?«, fragte der Geheimdienstchef, dessen Anzug wie immer tadellos saß. Freilich nur, um die Frage umgehend selbst zu beantworten: