»Wie gesagt, reiner Zufall! Zumindest sah es ganz danach aus.«
»Irgendwelche Zweifel an seiner Integrität?«
»Nicht im Geringsten. Ein Mann, der sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen hat. Und das, wie mir glaubhaft versichert wurde, aus triftigem Grund.«
»Sicherheitsstufe?«
»Ah! Inklusive Lizenz zum Töten.«
»Worin dieser Marder, wenn ich Sie richtig verstehe, ja eine gewisse Übung zu haben scheint.« Churchill wandte sich zur Seite und sah Menzies direkt ins Gesicht. »Wäre nicht der Erste, den uns die Nazis auf dem Silbertablett servieren.«
»Beileibe nicht, Sir!«, räumte Menzies ein. »Wobei ich mir seiner allein schon aufgrund des neuesten Coups absolut sicher bin.«
»Ihr Wort in Gottes Gehörgang, Menzies!«, lautete Churchills bärbeißige Antwort, bevor er sich ein Glas Gin Marke Beefeater genehmigte. »Wenn ich momentan nämlich etwas nicht vertragen kann, dann mit Sicherheit…«
»Schlechte Nachrichten, Sir, ich weiß!«, vollendete Menzies, ließ sämtliche Unterlagen in seinem Aktenkoffer verschwinden und gab den Code ein. Dann wandte er sich der Bunkertür zu. Gerade rechtzeitig, um seinem Bürochef in die Arme zu laufen.
»Neuigkeiten vom Marder, Sir!«, sprudelte es aus dem stämmigen Rotschopf hervor, der seine schottische Herkunft nicht verleugnen konnte.
»Herein!«, rief Churchill und zog indigniert die Brauen hoch.
»Verzeihung, Prime Minister, Sir, ich habe Sie im Eifer des Gefechts nicht…«
»Schon gut, junger Mann!«, lenkte Churchill amüsiert ein. »Lassen Sie sich durch mich nicht unterbrechen. Neuigkeiten, sagten Sie?«
»In der Tat!«, bekräftigte Menzies, während er den entschlüsselten Funkspruch überflog, den ihm sein Bürochef in die Hand gedrückt hatte.
»Welcher Art?«
»Allem Anschein nach ist der Mann, der Heydrichs Giftschrank geleert hat, tot. Selbstmord. Will heißen, er wurde gefoltert. Behauptet zumindest der Marder.«
»Und die schlechte Nachricht?«, fragte der vom Schicksal sichtlich gebeutelte Premier.
»Die schlechte Nachricht, Sir, ist die, dass die Geheimunterlagen nach wie vor verschollen sind.«
»Ist das alles?«
»Leider nein, Sir!«, stöhnte Menzies mit betretener Miene auf. »Scheint so, als kaufe die Berliner Kripo der Gestapo den Selbstmord per Kugel von diesem Heydrich-Adlatus nicht ab. Sicher ist, sie ermittelt auf eigene Faust.« Menzies ließ einen Schwall Atemluft entweichen und sah Churchill fragend an.
Doch der schien nicht im Mindesten irritiert.
»Gentlemen!«, rief er scheinbar gut gelaunt aus, erhob sein Glas und prostete Menzies und dem Schotten zu. »Die Jagd ist eröffnet! Cheers!«
14
Berlin-Schöneberg, Victoria-Luise-Platz | 10.30h
Wäre die Falle zugeschnappt, hätte sie keine Chance gehabt. Ort und Zeitpunkt jedenfalls waren ideal. Die U-Bahn-Station war leer, bis auf einen Betrunkenen und eine alte Frau, Rebecca allein und am Ende ihrer Kraft. Zu ihrer Verblüffung blieben die beiden Gestapo-Schnüffler jedoch einfach stehen. Wieso, sollte ihr indes bald klar werden.
Dass sie beschattet wurde, hatte Rebecca ziemlich bald gemerkt, keine 100 Meter von Mutter Schulzes Trödelladen entfernt. Die Hohenstaufenstraße war wie leergefegt gewesen, zumindest dem Anschein nach. Keine Spaziergänger, Kirchgänger, Autos. Kein Laut, der aus den zur Straße hin offenen Fenstern gedrungen war. Sonntagmorgen in Schöneberg, für die Jahreszeit viel zu schwül.
Je weiter sich Rebecca von ihrem Elternhaus entfernt hatte, umso mehr nahm die imaginäre Stille zu. Auf einmal war da nur noch sie gewesen, das Geräusch ihrer Absätze auf dem Asphalt. Und die Schritte hinter ihr. Keineswegs schnell, laut oder gar hektisch. Eher gelassen, oder, genauer gesagt, von der Gewissheit getragen, die Frau mit den dunklen Haaren habe ohnehin keine Chance.
Genau da aber hatte sie einen Fehler gemacht, nur zu verständlich, aber folgenschwer.
Der Blick über die Schulter war das Falscheste, was sie hätte tun können. Er war flüchtig gewesen, nur leider eben nicht gekonnt genug. Um ihren Verfolger zu täuschen, hatten ihre Schauspielkünste einfach nicht ausgereicht. Dafür hatte sie zu viel durchmachen müssen.
Und Lots Frau sah hinter sich und ward zur Salzsäule.
Ein Fehler, und nicht nur das. Denn eines war dem Mann mit der Sonnenbrille, dem breitkrempigen Hut und dem schäbigen Anzug natürlich sofort klar gewesen: Sie, Rebecca Kahn, würde ihn nicht etwa zu irgendwelchen Mitwissern, Komplizen oder Geheimtreffen führen. Sie würde das genaue Gegenteil tun. Und vor allem würde sie versuchen, ihre Haut zu retten.
Und zwar mit aller Macht.
Das hieß: Sie ging aufs Ganze. Rebecca hatte noch einmal durchgeatmet. Dann war sie losgerannt. Ohne sich umzudrehen, ohne Hilferuf, ohne Ziel. Der nächste Fehler, aber einer, auf den es nicht mehr angekommen war.
Die Fontäne auf dem Victoria-Luise-Platz hatte sie kaum beachtet, das U-Bahn-Schild umso mehr. Erst jetzt, kurz vor der Treppenflucht, die zum Bahnsteig der Linie U4 führte, waren die ersten Passanten aufgetaucht, aber Rebecca hatte keinen Blick für sie gehabt. Wenn ihr jemand helfen konnte, dann sie selbst. Wegen einer Jüdin, an deren Fersen ein Gestapo-Spitzel klebte, würde kein Mensch einen Finger krumm machen. Mit Sicherheit nicht.
Rebecca hatte nur noch Augen für die Treppe gehabt, erst zwei, dann mehrere Stufen auf einmal genommen und sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Treppe hinuntergestürzt. Immer noch dicht auf ihren Fersen, hatte sich der Gestapo-Agent nicht abschütteln lassen. Der lautstarke Protest eines Zeitungsverkäufers, der zwar sich, nicht aber seine Ware in Sicherheit bringen konnte, war Beweis genug gewesen.
Alles, was sie jetzt hätte brauchen können, wäre ein Quäntchen Glück gewesen. Beim Anblick der U-Bahn, die soeben in der Dunkelheit verschwand, konnte jedoch keine Rede mehr davon sein. Kaum hatte Rebecca Luft geholt, war auch schon der Gestapo-Schnüffler aufgetaucht, und das ohne erkennbare Hast. Warum, war ihr kurz darauf klar geworden.
Der Mann mit der Sonnenbrille war nicht allein gewesen.
Zuerst hatte sie gedacht, der Bahnsteig sei leer, außer einem Betrunkenen und einer Frau, die Selbstgespräche führte. Ein Fehler, wie sich noch zeigen sollte. Denn da war noch jemand gewesen. Und zwar ein Mann mit einer Zeitung vor dem Gesicht. Er war einfach nur dagestanden, locker, entspannt, mit dem Rücken zur Wand. Einer Bewegung, gleich welcher Art, hätte es auch nicht bedurft. Dass er mit ihrem Verfolger unter einer Decke steckte, war von Anfang an klar gewesen. Wer wie sie seit Monaten auf der Flucht war, konnte Gefahr förmlich riechen, und genau dies war hier der Fall.
Wie gesagt–wäre die Falle zugeschnappt, hätte sie keine Chance gehabt. Doch das tat sie nicht. Ein Vorteil, der nicht ungenutzt verstreichen würde.
Rebecca strich sich die Haare aus dem Gesicht und atmete tief durch. Das hatte sie auch bitter nötig. Die Luft war stickig, abgestanden und roch nach Dieselöl, so durchdringend, dass ihr fast schlecht davon wurde.
Ihrer Körperhaltung nach zu urteilen waren sich die Gestapo-Schergen ihrer Sache absolut sicher. Mit dem Ergebnis, dass sie es waren, die den nächsten Fehler machten, nämlich den, ihr Opfer zu unterschätzen. Hätten sie gewusst, mit wem sie es zu tun hatten, wäre alles ganz anders gekommen.
So aber ließen sie sich Zeit, und sei es nur, um sich an ihrer Verzweiflung zu weiden. Oder an ihrer Angst, typisch für eine derartige Situation. Doch nicht mit ihr. Rebeccas Körper straffte sich, und im gleichen Moment stand ihr Entschluss fest. Eins zu zehn, dass es klappen würde. Mehr nicht. Aber allein das war den Versuch wert.
Mit jeder Sekunde, die verstrich, stiegen Rebeccas Chancen, aber das wussten die beiden Schnüffler nicht. Ein grimmiges Lächeln flog über ihr hohlwangiges Gesicht. Nur jemand wie sie konnte auf eine derart tollkühne Idee verfallen. Um ein derartiges Risiko einzugehen, musste einem das Wasser schon bis zum Hals stehen. So wie in ihrem Fall. Ein höheres war schlichtweg nicht möglich, das stand fest. Zu verlieren gab es eine Menge, nicht zuletzt ihr Leben. Zu gewinnen jedoch ungleich mehr.