Und wenn es nur eine weitere Galgenfrist war.
Gut möglich, dass es ihr Gesichtsausdruck war, der ihre Verfolger bewog, ihre abwartende Haltung aufzugeben. Oder aber die Tatsache, dass sich der Bahnsteig spürbar zu beleben begann. Ein Indiz, dass die Ankunft des nächsten Zuges unmittelbar bevorstand.
Nur noch ein, zwei Minuten. Höchstens drei. Dann, und nur dann, hätte sie eine Chance.
Als könne er Gedanken lesen, beendete der Unbekannte seine Lektüre, steckte die Zeitung ein und nickte seinem Kollegen zu. Dann setzte er sich mit aufgesetzter Lässigkeit in Bewegung und schlenderte auf sie zu.
Kahl rasierter Schädel, Narbengesicht und Boxernase. Ein Schlägertyp aus dem Effeff.
Er hatte es auf sie abgesehen. Das war Rebecca vollkommen klar, spätestens in dem Moment, als ihr der Mann mit der Sonnenbrille den Weg abschnitt. Dass auf dem Bahnsteig wieder mehr Betrieb herrschte, würde das Unvermeidliche nur ein wenig hinauszögern, zu verhindern war es nicht.
Es sei denn, alles würde so laufen wie geplant.
Rebecca schickte ein Stoßgebet zum Himmel und ließ den Blick zwischen den beiden hin- und herwandern. Der Mann mit der Sonnenbrille war höchstens zehn Meter entfernt, das Narbengesicht nicht viel mehr. Zu ihrer Überraschung blieb der Schnüffler jedoch Sekundenbruchteile später stehen, ein angewidertes Grinsen im Gesicht. Der Grund hierfür war ein unvorhergesehener, nämlich der Betrunkene, der ihn um Feuer bat.
Ob Zufall oder nicht, es war dieser Mann, der dafür sorgte, dass Rebecca überhaupt noch eine Chance hatte. Dieser Mann und die Tatsache, dass der nächste Zug im Anrollen war. Eine Minute später, und Rebecca hätte ihren Plan vergessen können.
Doch jetzt, so kurz vor dem Ziel, würde sie sich von niemandem mehr aufhalten lassen. Und schon gar nicht von dem Mann mit der Brille. »Geheime Staatspolizei–mitkommen!«, forderte er sie in barschem Ton auf, aber Rebecca hörte nicht mehr richtig hin. Ihr Entschluss stand fest, und daran würde dieser Henkersknecht nichts mehr ändern. Als er sie am Arm packte, zerrte sie sich einfach los, rammte ihm den Ellbogen in die Rippen und schlängelte sich mit katzenhafter Gewandtheit auf die Bahnsteigkante zu.
Von dem, was dann geschah, bekam Rebecca nicht mehr das Geringste mit. Weder davon, dass das Narbengesicht den Betrunkenen zur Seite stieß, auf sie zurannte und wie elektrisiert stehen blieb, als er ihre Absicht durchschaute, noch davon, dass sich der Mann mit der Sonnenbrille aufrappelte, sich einen Weg zu ihr bahnte und sich beim Herannahen des Zuges an den Kopf fasste.
Eine Art Dunstschleier hatte sich über sie herabgesenkt, so dicht, dass alles dahinter verschwand. Mit Ausnahme der Vorderlichter des Zuges, die das Einzige waren, was noch in ihr Bewusstsein drang. Sämtliche Geräusche, sogar das Quietschen der Bremsen, blieben hinter dem Schleier zurück, gerade so, als ginge sie das alles nichts mehr an. Und doch war dem nicht so. Das Einzige, was im Augenblick zählte, waren die Lichter, die sich mit quälender Langsamkeit auf sie zubewegten.
Und Gott, dem ihr letzter Gedanke galt, bevor sie sprang.
*
»Heilige Madonna von Częstochowa, steh mir bei!« Nein, so was hatte er noch nie erlebt. Jedenfalls nicht, solange er U-Bahnen fuhr.
Eine geruhsame Frühschicht und danach eine Berliner Weiße mit Schuss. Mehr hatte Waldemar Opaczynski, Kosename ›Polacken-Waldi‹, von diesem Sonntagmorgen nicht erwartet. Doch er hatte sich zu früh gefreut. Es kam etwas dazwischen, das er sein Lebtag nicht vergessen sollte.
Er hatte es geahnt. Wer weiß, vielleicht hatte er es sogar gewusst. Auf jeden Fall war da dieses Gefühl, dass irgendetwas mit der jungen Frau an der Bahnsteigkante nicht stimmte. Ein Gefühl, das sich Sekundenbruchteile später bewahrheiten sollte.
Der Zug war noch halb im Tunnel, als er sie sah. Im Nachhinein fragte er sich, warum er sich gerade auf sie fixierte, fand aber keine Antwort darauf. Seis drum, sie war bildhübsch, eine Spur zu mager vielleicht, aber ihr sanft gewelltes Haar, die geschwungenen Brauen und dunklen Augen waren einfach etwas Besonderes. Fast so sehr wie ihr Blick, aus dem eine Entschlossenheit sprach, die den Fahrer der Linie vier erschaudern ließ.
Dass sich jemand vor die U-Bahn warf, kam in letzter Zeit immer häufiger vor. Erst neulich war einem Kollegen das Gleiche passiert. Scheußliche Geschichte. Kaum zu beruhigen, der arme Tropf. Ein Erlebnis, auf das Waldemar glatt hätte verzichten können.
Doch es sollte anders kommen, wenn auch nicht so, wie er dachte. Diese Frau war anders, ganz anders als das Bild, das man sich von einer Selbstmörderin machte. Und dann war da noch etwas. Sie wirkte entschlossen, keine Frage. Nur eben nicht verzweifelt, verwirrt, zerstreut, durcheinander oder wie man den Gesichtsausdruck eines Selbstmörders sonst noch beschreiben würde.
Nein, diese Frau war anders. Auf eine Art, wie er es sich nie und nimmer hätte vorstellen können.
Als die Frau auf die Gleise sprang, bremste Waldemar nicht einmal mehr richtig ab. Hätte er es getan, wäre sowieso nichts mehr zu ändern gewesen. Die Sache war gelaufen, so oder so. Eines fiel ›Polacken-Waldi‹ jedoch sofort auf. Die Frau sprang nicht blindlings, sondern mit System. Keine zehn Meter mehr von der Lokführerkabine entfernt, vollführte sie eine Drehung und landete kopfüber auf dem Gleis. Der Aufschrei der übrigen Passanten war so laut, dass er das Bremsgeräusch übertönte, aber in diesem Moment war bereits alles vorbei.
Dachte er jedenfalls. Doch er sollte eines Besseren belehrt werden.
Waldemar kam nicht einmal dazu, sich von seinem Schreck zu erholen, denn im gleichen Moment, als er aus der Fahrerkabine stürzte, konnte er die Frau unter dem Waggon hervorkriechen sehen. Er glaubte zwar nicht an Gespenster, an Wunder dafür umso mehr. Spätestens seit dem heutigen Tag.
Die Frau wirkte ein wenig benommen, schien aber unverletzt. Die Bluse verdreckt, jede Menge Hautabschürfungen und blaue Flecken. Sonst war da nicht viel. Eben ein Wunder.
Wenn da nicht der Zug aus der Gegenrichtung gewesen wäre. Waldemars Mund formte sich zu einem ›Oh‹, doch die Frau war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie nichts davon mitbekam. Waldemar brach der kalte Schweiß aus den Poren, und trotz seiner 1,90 m, 120 Kilo Lebendgewicht und jeder Menge dickem Fell wurde er von nackter Panik erfasst. Alles, was er in seiner Not tat, war, mit den Fäusten ans Fenster zu hämmern, aber es war genau das Richtige. Die Frau fuhr herum und sah ihn an.
Ein Blick, den er sein Lebtag nicht vergessen sollte.
Dann hechtete sie über das Gleis, kletterte über die Bahnsteigkante und rappelte sich auf, bevor der Zug in den Bahnhof einfuhr.
15
Berlin-Mitte, Prinz-Albrecht-Straße 8 | 12.00h
Der Trick war so simpel, dass er sich wunderte, warum die Gestapo noch nicht dahintergekommen war.
Kaum zu glauben.
Aber wahr.
Erster Akt: Funkspruch aus dem Cabinet War Room in London. Adressat: ein MI6-Agent in Berlin.
Teil zwei: Abschalten des Agenten.
Dritter Akt: Dechiffrierung. Sein Auftritt im Dienst Seiner Majestät, der Tarnung halber als Sturmführer der Gestapo. Nicht gerade seine Traumrolle, aber äußerst effektiv. Risiko gleich null, da die Überwachung des alliierten Funkverkehrs zu seinem Aufgabengebiet in der Abteilung ›Gegner, Sabotage und Schutzdienst‹ und als Verbindungsmann zum Auslandsnachrichtendienst gehörte.