»Inklusive unseres Abteilungsleiters!«, ergänzte Klinke und schnitt eine Grimasse, die an Respektlosigkeit nicht zu überbieten war. »Durchaus zu begrüßen, wenn die beiden Stützen des Regimes mal Pause machen!«
»Eben!«, pflichtete ihm Sydow bei, obwohl ihm eigentlich nicht zum Lachen zumute war. »Aber Spaß beiseite! Wir müssen uns etwas ausdenken, bevor uns die da oben ins Handwerk pfuschen!«
»Keine Bange, wird uns schon etwas…« Klinke kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn plötzlich klingelte das Telefon.
»Kripo Berlin!«, klang Sydow nicht gerade freundlich, denn der Anruf kam im denkbar ungünstigsten Moment. Doch sein Unmut verflog ebenso rasch, wie er gekommen war, und er hörte gespannt zu.
Der Mann am Telefon wollte anonym bleiben, und Sydow versuchte auch nicht, ihn umzustimmen. Darauf, wie er hieß, kam es im Moment nicht an, sondern auf das, was er ihm gerade anvertraute. Und das war Sprengstoff pur. Vorausgesetzt, er packte die Sache richtig an, würde ihn der Anrufer seinem Ziel ein erhebliches Stück näher bringen. »Keine Bange!«, tat er deshalb alles, um seinen Gesprächspartner zu beschwichtigen. »Wenn Sie den Tathergang schildern, wird Ihnen das keinerlei Nachteile bescheren!«
»Das sagt sich so leicht!«, antwortete der Mann in einem Ton, aus dem eine gehörige Portion Skepsis herauszuhören war. »Oder muss ich Sie darüber belehren, wie weit der Arm der Gestapo reicht?«
Nein, das musste der anonyme Anrufer nicht.
»Wie dem auch sei!«, wechselte Sydow rasch das Terrain. »Was mich betrifft, haben Sie keinerlei Repressalien zu befürchten!«
»Wäre ja noch schöner!«, konterte der Mann selbstbewusst. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich der einzige Zeuge in einem Mordfall bin!«
»Ein Grund mehr, mir alles bis ins Detail zu schildern.«
»Wenn, dann aber nicht am Telefon!«
»Einverstanden. Wo dann?«
Die Antwort kam postwendend, der Anrufer überließ also nichts dem Zufall. »Kennen Sie den jüdischen Friedhof an der Pankower Chaussee?«
»Selbstverständlich. Und wo…«
»Am Grab von Moritz Mannheimer. Um 14 Uhr.« Der Mann am Telefon holte kurz Luft und fügte hinzu: »Selbstverständlich allein!« Dann hängte er auf.
»Etwas Neues?«, fragte Klinke, der das Gespräch mit wachsendem Interesse verfolgte hatte.
»Und ob!«, antwortete Sydow, schnappte sich seine Zigaretten und steckte sich eine an. Was der Mann gerade vom Stapel gelassen hatte, musste er erst verdauen.
»Möllendorf?«
»Genau.« Die Zigarette im Mundwinkel legte Sydow die Handflächen auf die Schreibtischkante und ließ das Gespräch Revue passieren. »Stell dir vor, der Kerl behauptet, Zeuge davon gewesen zu sein, wie Möllendorf auf der Parkbank gelandet ist. Dreimal darfst du raten, auf wen die Beschreibung des Anführers der Nacht-und-Nebel-Aktion passt! Na, fängts an zu klingeln, Dicker?«
»Doch nicht etwa auf Moebius?«
»Gratulation, Herr Kollege. Sie haben sich eine Beförderung verdient!«
»Scheiß drauf!«, war Klinke anscheinend nicht nach Sydows Scherzen zumute, weshalb er das Thema zurück auf den Anrufer brachte: »Wie hat er sich denn angehört?«
»Der anonyme Anrufer?« Sydow ließ sich auf seinen Stuhl sinken und spielte geistesabwesend mit dem Streichholzbriefchen herum. »Wie ein Mann in mittleren Jahren. Um die 40 vielleicht. Wenn überhaupt.«
»Und weiter?«
»Keine Ahnung. Ich kann mich zwar täuschen, wage aber zu behaupten, er kommt nicht aus Berlin.«
»Woher dann?«
»Das genau ist die Frage! Drauf wetten, dass er von hier ist, würde ich jedenfalls nicht.«
»Süddeutscher vielleicht?«
»Kann sein. Wieso fragst du?«
Klinke rieb sich nachdenklich das Kinn. »Gut möglich, dass es der Anrufer von heute Morgen war.«
»Doch nicht etwa der Mann, der Möllendorf gefunden hat?«
Klinke nickte. »Doch!«, bekräftigte er knapp. »Passt doch zusammen, oder nicht?«
Sydow ließ die Zähne über die Unterlippe gleiten und kratzte sich am Kopf. »Wie dem auch sei–in eineinhalb Stunden sind wir schlauer!«
»Treffpunkt?«
»Jüdischer Friedhof an der Pankower Chaussee.«
»Der ideale Platz für einen Plausch unter Freunden!«, feixte Klinke. »Bin gespannt, mit wem wir es da zu tun kriegen.«
»Ich auch!«, stimmte Sydow nach einer Kunstpause zu, drückte die Zigarette aus und richtete sich zu voller Größe auf. »Höchste Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen!«
»Und was nun?«
»Getrennt marschieren, gemeinsam zuschlagen!«, erwiderte Sydow forsch, und das, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. Gesetzt den Fall, es gelänge ihnen, Moebius und Konsorten des Mordes zu überführen. Was würde dies nach sich ziehen? Doch wohl ganz bestimmt nicht seine Verurteilung. Es gab niemanden, der die Gestapo vor Gericht zerren konnte, geschweige denn einen Richter, der Anklage erheben würde. Wozu sich dann überhaupt in Gefahr bringen, Karriere, Leib und Leben riskieren? Sydow fuhr sich mit der Handfläche über den Bart. Die Antwort war denkbar einfach. Weil es nichts mehr zu riskieren gab. Er war bereits zu sehr in den Fall verstrickt, als dass er einen Rückzieher hätte machen können. Heute Morgen, als Klinke beinahe über den Haufen gefahren worden wäre, hätte dies noch einen Sinn gehabt. Jetzt nicht mehr. Nach dem Tod von vier Unschuldigen, darunter einem einjährigen Kind, konnte man nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen. Wer, wenn nicht er, war imstande, die Täter zu überführen? Und wenn nicht, es wenigstens zu versuchen?
»Und du bist dir auch ganz sicher, dass du die Sache durchziehen willst?«, fragte Klinke ganz unverblümt, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Sydow herausfordernd an. Einmal mehr unter dem Eindruck, sein Kollege könne Gedanken lesen, tat sich Sydow mit seiner Antwort schwer. »Du meinst, warum den Fall nicht einfach Fall sein lassen und nach der Pfeife der Gestapo tanzen?«
»Genau.«
»Weil vier Menschen, die nicht das Geringste mit der Sache zu tun haben, auf bestialische Weise ums Leben gekommen sind. Darum.«
»Und warum noch?«
»Weil ich eine Stinkwut auf dieses Verbrechersyndikat habe. Schon vergessen, dass nicht mehr viel gefehlt hätte, und du hättest die Radieschen von unten begaffen können?«
Ein sibyllinisches Lächeln huschte über Klinkes Gesicht. Dass Sydows Frage rhetorisch gemeint war, stand fest, aber sein Assistent tat ihm den Gefallen darauf anzuspringen. »Sonst noch was?«
»Allerdings!«, retournierte Sydow souverän.
»Und das wäre?«
»Die Tatsache, dass ich glaube, wir sind da einem Riesending auf der Spur. Oder warum glaubst du, dass uns die Gestapo unbedingt von der Bildfläche pusten will?«
»Keine Ahnung.«
»Wenn es kein Selbstmord war, sondern tatsächlich eine Exekution, noch dazu durch die Gestapo, was könnte deiner Meinung der Grund dafür sein?«
Klinke zuckte die Achseln. »Na ja!«, druckste er herum und rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Sollte der Kerl von vorhin recht haben, muss Möllendorf ganz schön was ausgefressen haben.«
»Gelinde gesagt.« Sydow erhob sich, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging vor dem Fenster auf und ab. »Was, frage ich mich, hatte dieser Möllendorf mit Heydrich zu tun?«
»Du willst doch nicht etwa behaupten, seine–na gut, nennen wir es der Einfachheit halber Exekution!–du denkst doch nicht etwa immer noch, dass der Tod von Möllendorf in Zusammenhang mit dem Attentat auf Heydrich steht? Und selbst wenn, was sollte der Grund dafür sein? Reichlich gewagt, deine Hypothese, findest du nicht auch?«
»Und warum hat sich die Gestapo dann die werte Frau Gemahlin vorgeknöpft? Weiße Handschuhe, und das im Sommer! Auffälliger gehts ja wohl nicht!«
»Damit das Kind seine liebe Ruhe hat. Weil sie mit ihm unter einer Decke steckt oder schlicht und ergreifend zu viel weiß!«, war Klinke die Diskussion leid und verzog das Gesicht. »Also, was liegt als Nächstes an?«