»Gute Frage.« Die Hände in der Tasche, begutachtete Sydow sein Gesicht im Spiegel, der über dem Waschbecken in der Ecke hing. Dreitagebart, Augenränder noch und nöcher und eine Platzwunde, die von seiner morgendlichen Rettungsaktion stammte. Er hatte schon mal besser ausgesehen. »Das Beste wäre, du nimmst dir Möllendorfs Frau noch mal ernsthaft zur Brust!«, schlug er Klinke vor.
»Im wortwörtlichen Sinn?«
»Wenn dir danach ist–warum nicht! Spaß beiseite, tu mir den Gefallen und fahr noch mal zu ihr raus. Könnte mir vorstellen, dass du einen besseren Draht zu ihr hast als ich.«
»Und was, wenn ich dabei über die Straße muss?«, passte sich Klinke dem Sydow’schen Humor in beängstigender Weise an, schraubte sich in die Höhe und ging zur Tür.
»Sehr witzig, Dicker! Lass dir eben was einfallen. Ach so, noch was: Bevor du dem Charme einer gewissen Frau von Möllendorf erliegst, könntest du der Spurensicherung einen kleinen Höflichkeitsbesuch abstatten.«
Klinke salutierte. »Jawoll, mein Führer!«, war er in puncto Galgenhumor nicht mehr zu bremsen. »Und du?«
»Ich?« Sydow schlug die Hacken zusammen und grinste schief. »Was mich betrifft, steht mir ein weiteres Treffen mit Herrn von Möllendorf bevor!«, antwortete er. »Und ein Stelldichein auf dem Friedhof–damit mir ja nicht zu wohl wird in meiner Haut.«
»Treffpunkt?«
»Im ›Nussbaum‹–wo sonst?«
»Entschuldigung–was für eine Frage! Und wann?«
»So gegen 17 Uhr. In Ordnung?«
»Denke schon.« Die Hand auf der Klinke, drehte sich Sydows Assistent nochmals um. »Dann machs mal gut!«, sagte er, hob die Hand und verließ sein Büro.
»Du auch, Dicker!«, murmelte Sydow, schnappte sich sein Sakko und folgte Klinke auf dem Fuß. Er war schon an der Tür, als erneut das Telefon klingelte. Zuerst wollte Sydow nicht abheben, tat es der Neugierde halber aber doch.
»Ja, bitte?«
»Kommissar Sydow?«, keifte eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung. »Braun hier.«
»Doch nicht etwa Eva…«
»Ihre Scherze in Ehren, lieber Herr Kommissar…«
»Hauptkommissar–Ordnung muss schließlich sein.«
»... aber ich fürchte, dies ist weder die Zeit noch der Ort dafür.«
Sydow verdrehte die Augen. Die Sekretärin des Herrn Polizeipräsidenten. Berühmt-berüchtigt wegen ihrer Humorlosigkeit. Sozusagen die fleischgewordene Aufforderung zu sexueller Abstinenz.
Und das natürlich genau im richtigen Moment.
»Was liegt an, verehrtes Fräulein Braun?«
»Das, verehrter Herr Kommissar, würde Ihnen der Herr Polizeipräsident gerne selber sagen!«
»Und das an seinem freien Tag?«
»Gerade an seinem freien Tag. Mit anderen Worten: Sie werden gebeten, unverzüglich Kontakt mit ihm aufzunehmen. Per Telefon.«
»Wenn, dann aber bitte nicht jetzt.«
Wie Kriemhild Braun, Spitzname ›Zerberus‹, just in diesem Moment aus der Wäsche guckte, konnte sich Sydow lebhaft vorstellen. Genauso gut wie die Tatsache, dass sein Triumph ein äußerst kurzlebiger sein würde.
»Wie darf ich das verstehen?«
»So, wie ich es sage. Oder vielmehr gesagt habe.« Dieser Vorzimmerdrache ging ihm gewaltig auf die Nerven, und das nicht erst seit heute. »Und jetzt, in der Hoffnung, dass Ihnen der Ausdruck geläufig ist, haben Sie die Güte, mich zu entschuldigen! Ein dringender Fall–Sie verstehen.«
Bevor seine Gesprächspartnerin zum Luftholen kam, lag der Hörer wieder auf der Gabel.
»Scheiße, verfluchte!« Sydow hieb mit der Faust auf den Tisch. Das ging ja schneller als erwartet. Der Polizeipräsident wollte ihn zur Schnecke machen, dazu bedurfte es keiner Fantasie. Oder, schlimmer noch, ihm den Fall kurzerhand entziehen. So weit allerdings würde es nicht kommen. Sydows Züge verhärteten sich. Pech, Herr Polizeipräsident, rief er sich das imaginäre Bild seines Vorgesetzten in den Sinn. Pech, dass Tom Sydow Lunte gerochen hatte.
In diesem Moment, zwischen allen nur erdenklichen Stühlen, war Tom Sydow klar, dass die letzte Brücke hinter ihm bereits ins Wanken geraten war. Nur noch ein paar Stunden, vielleicht weniger, und man würde ihm den Fall entziehen. Anders formuliert: Bis es soweit war, musste etwas geschehen. Und das möglichst bald. Mit jeder Minute, die ungenutzt verstrich, rückte das Debakel ein Stück näher. Ein Debakel der besonderen Art. Eines, das ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben kosten würde.
Allein mit sich und seinen Gedanken, trotz allem jedoch zum Äußersten entschlossen, blieb Sydow in der Mitte des Raumes stehen. Auf die Idee, das Fenster zu schließen, kam er gar nicht erst, sondern ließ den Blick durch sein spartanisch möbliertes Büro schweifen.
Auf einmal traf es ihn wie ein Blitz, nicht unerwartet, dafür aber mit voller Wucht.
Die Erkenntnis, Ausgeburt seines untrüglichen Instinktes, hatte etwas Beruhigendes an sich, wobei er sich dies zunächst nicht erklären konnte. Von dieser Stunde an würde Hauptkommissar Tom Sydow, Beamter der Kripo Berlin, dieses Büro nicht mehr betreten.
Nie mehr.
Doch bevor ihm richtig klar wurde, was das hieß, war die Tür seines Büros bereits ins Schloss gefallen.
Ohne dass er sich die Mühe gemacht hätte abzuschließen.
17
Neue Reichskanzlei, Voßstraße 1–19 | 12.45h
Jedes Mal, wenn er hier war, kam er sich wie ein HJ-Pimpf vor. Am heutigen Sonntag mehr denn je.
Natürlich trug der Raum, in dem er sich befand, das Seinige dazu bei. Er war fast 400 Quadratmeter groß, hatte insgesamt fünf Eingänge und ebenso viele Fenstertüren, die auf eine riesige Terrasse hinausführten. An ihrem jeweiligen Ende befanden sich zwei Pferdeskulpturen aus Bronze, daneben die Treppen, die hinunter in den Garten und zum Gewächshaus führten. Die Wände des Arbeitszimmers waren mit rötlichem Marmor verkleidet, die Gemälde, Werke italienischer Meister, sündhaft teuer. Vor der Fensterfront befand sich ein Marmortisch, überhäuft mit Generalstabskarten, links daneben ein Schreibtisch, dessen Intarsien ein halb aus der Scheide gezogenes Schwert aufwiesen. Über dem Kamin, um den ein Sofa und ein halbes Dutzend Polstersessel gruppiert waren, hing ein Porträt Bismarcks, das angesichts der immensen Größe des Raumes jedoch ein wenig verloren wirkte. Kein Wunder, denn von einem Ende zum anderen maß dieser 15 Meter. Ein riesiger Globus verlieh dem protzigen Ambiente sozusagen den letzten Schliff.
Schuld an dem Gefühl der Beklommenheit, das Heinrich Himmler, Reichsführer-SS, in diesem Moment empfand, war jedoch nicht nur seine Umgebung. Schuld daran war vor allem die Tatsache, dass Heydrichs sogenannter Giftschrank nach wie vor verschollen war und er dies dem Mann, der mit dem Rücken zu ihm auf der Terrasse stand, so schonend wie möglich beibringen musste. Die Scheu vor demjenigen, dessen Silhouette sich hinter dem Vorhang abzeichnete, war so groß, dass er es nicht wagte, den Stoff beiseitezuschieben und sich zu ihm hinaus auf die Terrasse zu begeben.
»Der getreue Heinrich–pünktlich wie immer!«, hörte er den Uniformierten plötzlich sagen, und obwohl ihm seine Stimme vertraut war, überlief es ihn kalt. Wie er ihn auf dem mit Teppichen ausgelegten Marmorfußboden hatte kommen hören, war ihm ein Rätsel, beileibe nicht das einzige, auf das er im Verlauf der Jahre gestoßen war. Nichts Konkretes, aber jede Menge Gerüchte. Und das Interessante war, dass sie nicht verstummen wollten. Gerüchte über seine Herkunft, die Zeit im Obdachlosenasyl, Affären. Insbesondere die mit seiner Nichte, ein absolutes Tabu. Ihr Selbstmord, so es denn einer war, hatte für erhebliches Aufsehen gesorgt und ihm beinahe das Genick gebrochen. In Parteikreisen unterhielt man sich nur hinter vorgehaltener Hand darüber. Ein falsches Wort, und der Betreffende war erledigt.