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Für Heydrich, der gern im Trüben fischte, war die Sache ein gefundenes Fressen gewesen. Dass er vor nichts zurückschreckte, war allgemein bekannt, und so hatte er sich auch nicht groß darüber gewundert, als Gerüchte über Geheimdossiers im Umlauf waren. Er selbst, Himmler, hatte ihn nie darauf angesprochen, erst vor fünf Tagen, aber da war es bereits zu spät gewesen. Er hätte sich ohrfeigen können, daran ändern konnte er jedoch nichts. Der Lehrling hatte den Meister übertrumpft, um Längen, wie Himmler mit wachsendem Unbehagen registrierte. Heydrich hatte ihn eben gekannt, besser als er sich selbst. Er hatte alles vorausgesehen, geahnt, dass er, der Reichsführer-SS, danach trachten würde, in den Besitz seiner Geheimdossiers zu gelangen, gewusst, dass ihn der Besitz des verschollenen Giftschrankes zum unumschränkten Herrscher hinter den Kulissen machen würde. Mit dem Ergebnis, dass die führenden Köpfe des Reiches nach seiner Pfeife zu tanzen hatten.

Und nicht nur sie.

Himmler schloss die Augen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Komplott gegen ihn, vor allem die Absprache mit Möllendorf, war klug eingefädelt und eines Heydrich würdig gewesen. Folglich musste er sich etwas einfallen lassen. Denn eins stand von vornherein fest: Sollte es ihm gelingen, den Giftschrank aufzutreiben, würde er die kostbarsten Stücke des Schatzes für sich behalten. Wozu unter anderem das Protokoll der Konferenz am Wannsee gehörte. Auf gar keinen Fall durfte davon etwas nach außen dringen. Der Schaden für das Reich wäre irreparabel, auch und vor allem, was die Moral der Bevölkerung anging. Und für ihn, denn dann wäre er erledigt. Einen derartigen Schnitzer würde ihm der Mann hinter dem Vorhang nie und nimmer verzeihen. Dazu kannte er ihn inzwischen zu gut.

»Dilettanten, nichts als Dilettanten!«

»Darf man fragen, wen Sie damit meinen, mein…«

»Keine langatmigen Erklärungen, Himmler!« Der Mann hinter dem Vorhang machte eine wegwerfende Geste. »Wenn nicht einmal Sie es schaffen, diese Geheimakten aufzutreiben, wer dann?«

An einem Punkt angelangt, an dem ihn ein falsches Wort den Kopf kosten konnte, brach ihm der Schweiß aus allen Poren hervor. Himmler war froh, dass keiner seiner Rivalen, allen voran Göring, ihn so sah. Ein schwacher Trost, denn nun war es an ihm, etwas zu erklären, wofür es eigentlich keine Erklärung gab. Der Giftschrank war nicht aufzufinden, der Mann, der über seinen Verbleib Bescheid wusste, tot. Beim Gedanken daran packte ihn die kalte Wut, und Himmler nahm sich vor, die Verantwortlichen zur Rede zu stellen.

Doch zunächst einmal war er es, der sich zu rechtfertigen hatte. »Nur noch ein wenig Geduld, mein…«, wagte Himmler einen zaghaften Versuch, aber sein Gesprächspartner fiel ihm erneut ins Wort.

»Geduld, Geduld, Geduld!«, rief er aus, wobei sich seine Stimme fast überschlug. Die Silhouette hinter dem Vorhang geriet auf einmal in Bewegung, und was mit einem konvulsivischen Zucken begonnen hatte, endete mit einer Tirade, die Himmler instinktiv zurückweichen ließ. »Was heißt denn hier überhaupt Geduld! Oder können Sie sich etwa nicht vorstellen, was passiert, wenn dieser Giftschrank in die falschen Hände gerät? Jetzt kommen Sie, Himmler, Sie sind doch sonst nicht so schwer von Begriff!«

»Wenn ich ehrlich bin, wäre ich nie und nimmer auf die Idee gekommen, dass Heydrich ein derart skrupelloser…«

»Was glauben Sie denn, Himmler, weshalb ich ihn dann nach Prag geschickt habe? Wegen seiner Skrupellosigkeit–weshalb denn sonst? Das und allein das hat ihn doch wohl ausgezeichnet! Noch vor allen anderen! Wer außer ihm wäre in der Lage gewesen, die Endlösung mit der gebotenen Härte voranzutreiben? Göring vielleicht? Der ist doch voll und ganz damit beschäftigt, seine Kunstschätze zusammenzuramschen!«

»Genau das ist das Problem. Unter anderen jedenfalls.«

»Was denn, zum Teufel!«

»Die Endlösung.«

»Wieso?«

»Soweit mir bekannt ist, soll sich unter Heydrichs Geheimakten das Original von der Konferenz am Großen Wannsee befinden.« Himmler scharrte verlegen mit dem Fuß. Die Floskel ›Wenn Sie verstehen, was ich meine!‹ konnte er sich gerade noch verkneifen.

Sein Glück.

Gegen das, was nun über ihn hereinbrach, war die Tirade von vorhin harmlos gewesen. Der Mann hinter dem Vorhang wirbelte herum, fluchte, tobte und schrie, was das Zeug hielt. Himmler hielt ganz einfach still. Aus Erfahrung wusste er, dass seine Wutausbrüche irgendwann einmal abklingen würden. So auch dieses Mal, wenn auch erst nach zehn Minuten: »Unter gar keinen Umständen, verstanden?«, bekam er das Ende des Tobsuchtsanfalls gerade noch mit. »Unter gar keinen Umständen dürfen diese Dossiers in die falschen Hände geraten! Und schon gar nicht dieses Konferenzprotokoll. Wäre dies der Fall, müssten wir mit unabsehbaren Konsequenzen rechnen! Und darum gilt höchste Geheimhaltungsstufe!«

»Zu Befehl!«, fügte Himmler zackig an, aber offenbar war die Energie seines Gesprächspartners so sehr erschöpft, dass er sich umdrehte, die Arme verschränkte und in brütendes Schweigen verfiel. Für Himmler ein Zeichen, dass das Gespräch so gut wie beendet war. Höchste Geheimhaltungsstufe! Das hörte sich alles so einfach an. Dummerweise waren diese beiden Quertreiber von der Berliner Kripo mit herkömmlichen Mitteln nicht klein zu kriegen. Die Folge: Er würde sich andere, ungleich härtere Maßnahmen einfallen lassen müssen. So zum Beispiel Sippenhaft. Damit kriegte man auch noch den renitentesten Zeitgenossen klein.

»Das war alles! Sie können gehen!«, ließ sich der Mann auf der anderen Seite des Vorhanges am Ende doch noch zu einer Bemerkung herab.

»Wie Sie befehlen, mein Führer!«, erwiderte Himmler militärisch knapp.

Dann wandte er sich zum Gehen.

»Wenn wir gerade dabei sind, Himmler!«, war der Reichsführer-SS allerdings noch nicht aus dem Schneider. »Wie geht es eigentlich mit den Vorbereitungen für Heydrichs Beerdigung voran?«

»Bestens, mein Führer!«, erwiderte Himmler, drehte sich auf dem Absatz um und erstarrte.

»Denken Sie dran. Das Beste ist gerade gut genug.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Genau so, wie es gemeint ist, Himmler. Bekanntermaßen ist Beerdigung ja nicht gleich Beerdigung.«

»Selbstverständlich, mein Führer!«, stieß Himmler sichtlich verunsichert hervor. »Ich verstehe.«

»Das bezweifle ich.«

Aus den Erfahrungen, die er während der letzten Jahre gesammelt hatte, hielt es Himmler für das Beste, zu schweigen. Er tat gut daran, denn seine Meinung war ohnehin nicht gefragt: »Es ist mein unabänderlicher Wille, Himmler«, klang es ihm förmlich in den Ohren, »dass Heydrich nicht nur mit allen militärischen Ehren bestattet, sondern ein Staatsbegräbnis erhalten wird.«

»Ein Staatsbegräbnis?«

»Genau. Mit allem, was dazugehört.«

Wenn Himmler je sprachlos gewesen war, dann in diesem Moment.

»Mit anderen Worten. Wir werden sämtliche Register ziehen. Ehrenkompanie, Flammenschalen, Trommelwirbel. Trauerzug durch Berlin und so weiter. Aufbahrung im Mosaiksaal der Reichskanzlei. Musik aus der ›Götterdämmerung‹ nicht zu vergessen, das rundet eine Trauerfeier erst richtig ab.«

»Und das bei jemandem, der sich dermaßen ruchlos verhalten hat?«, fiel es Himmler schwer, ein derartiges Ausmaß an Zynismus zu verdauen. Und das wollte bekanntlich etwas heißen.

»Gerade dann, Himmler!«, ließ die Antwort auf seine Frage jegliche Kompromissbereitschaft vermissen. »Wenn schon, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Schmierenkomödie zu Ende zu bringen. Und da dem so ist, darf auf keinen Fall etwas nach außen dringen. Auf keinen Fall, hören Sie? Nicht auszudenken, wenn die Alliierten etwas davon mitbekämen. Dann könnten wir uns nämlich unser eigenes Grab schaufeln. Das ist Ihnen doch wohl hoffentlich klar!«