Himmler nestelte an seinem Uniformkragen herum. Das genau war das Problem, nämlich, ob die Sache auf Dauer geheim zu halten war. Zum einen vor den Alliierten, für deren Spione die Sache ein gefundenes Fressen sein würde, und andererseits vor diesen beiden Quertreibern von der Kripo, für die sie offenbar nicht heiß genug sein konnte. Noch nicht, denn dieses Problem würde sich bestimmt bald erledigen. Dafür würde er sorgen. Wenn es sein musste, sogar persönlich. »Selbstverständlich, mein Führer.«
»Und da wäre noch etwas, Reichsführer.«
Wenn er gedacht hatte, die Audienz sei für ihn beendet, sah sich Himmler getäuscht.
»Trifft es zu, dass allein in Berlin etwa 5.000 Juden untergetaucht sind?«
Der Reichsführer-SS schwitzte Blut und Wasser. Mit einem derartigen Frontalangriff hatte er nicht gerechnet. »Ich fürchte ja, mein Führer!«, stieß er mühsam hervor.
»Und wie ist das zu erklären?«
Himmler legte sich eine Antwort zurecht, doch nicht schnell genug, um der nächsten Attacke zuvorzukommen: »Damit Sie Bescheid wissen: Sollte es noch einmal vorkommen, dass sich einer oder eine der zu Deportierenden ihrem Abtransport durch Flucht entziehen und anschließend seelenruhig durch Berlin spazieren, sehe ich mich gezwungen, andere Saiten aufzuziehen! Haben Sie mich verstanden, Reichsführer?«
Oh ja, das hatte er.
Erstens: Liquidierung der beiden Kripobeamten. Wenn nötig, mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Zweitens: Jagd auf sämtliche Juden im Untergrund. Bis hin zu ihrer völligen Beseitigung.
Heinrich Himmler, Henker von Führers Gnaden, schlug die Hacken zusammen. »Zu Befehl!« Seine Beklommenheit war auf einen Schlag verschwunden. Wieder ganz der Alte, ein Mann, der bereits jetzt zu den größten Verbrechern des Jahrhunderts zählte, machte er einen Schritt auf die offene Flügeltür zu.
Doch da war niemand mehr.
Nur die drückende Schwüle, die ihm wie der Atem der Hölle erschien.
18
Berlin-Tiergarten, Lützowplatz | 13.20h
Schon von Weitem sah das vierstöckige Haus am noblen Lützowplatz alles andere als einladend aus. Der Erbauer, ein Magnat aus der Kaiserzeit, musste ein Faible für Burgen gehabt haben. Oder schlicht und ergreifend den falschen Architekten.
Doch darauf kam es im Moment nicht an. Dieses Haus, nur einen Steinwurf vom Landwehrkanal entfernt, war ihre letzte Hoffnung. So einfach war das. Einfach und deprimierend zugleich.
Während sie vor der Haustür stand, musste Rebecca an die Ereignisse des heutigen Tages denken. Mord, Verrat und eine halsbrecherische Flucht, die ebenso gut mit ihrem Tod hätte enden können. Sie war mit heiler Haut davongekommen, ein schwacher Trost. Denn mit der schwarzen Limousine, die sie vor der schwedischen Botschaft in der Tiergartenstraße bemerkt hatte, war ihr Plan, sich dort in Sicherheit zu bringen, gescheitert.
Um nicht unnötig Aufsehen zu erregen, ignorierte Rebecca die schmerzenden Gliedmaßen, zupfte an ihrem Kleid und steuerte forsch auf die Haustür zu. Ein Blick auf den Klingelknopf, und schon keimte Hoffnung in ihr auf. Die Familie, bei der sie jahrelang ein- und ausgegangen war, wohnte also noch hier. Vor vier Jahren, genauer gesagt im November 1938, hatte sie dieses Haus zum letzten Mal betreten.
Danach nie mehr.
»Sie wünschen?« Bis sich die Tür der geräumigen, um nicht zu sagen hochherrschaftlichen Wohnung im Obergeschoss einen Spalt weit öffnete, vergingen mehrere Minuten. Rebecca rechnete schon nicht mehr damit, dass jemand zu Hause war, aber dann stand sie Agnes, Freundin aus besseren Tagen, Auge in Auge gegenüber.
»Sie wünschen?«, wiederholte die junge Frau und sah sie naserümpfend an. Sie trug einen Uniformrock, Krawatte und ein Abzeichen mit der Aufschrift ›LH‹ auf der Bluse. Rebecca musste schon zweimal hinsehen, um in der drallen Flakhelferin genau die Frau zu erkennen, mit der sie jahrelang eng befreundet gewesen war.
Und doch war dem so. Irrtum ausgeschlossen.
»Agnes?« Rebecca hatte die Frage aus Verlegenheit gestellt, bereute sie jedoch rasch.
»Sollten Sie fortfahren, mich zu duzen, werde ich dafür Sorge tragen, dass man Ihre Personalien überprüft. Schneller, als Ihnen lieb sein kann.«
Das saß. Rebecca war völlig perplex. Auf den ersten Blick hatte es so ausgesehen, als habe Agnes sie nicht erkannt. Doch wie so häufig in letzter Zeit wurde Rebecca eines Besseren belehrt: »Falls es Sie interessiert«, riss der Kasernenhofton nicht etwa ab, sondern nahm an Schärfe noch zu, »wir sind gerade beim Mittagessen. Wenn du… wenn Sie also ein Anliegen haben, dann bitte schnell!«
Die leichte Röte im Gesicht der uniformierten Frau verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Rebecca musste sich am Geländer festhalten, nicht etwa aus Schwäche, sondern um sich klarzumachen, dass dies kein Albtraum war. Ein Anliegen? Wozu auch, eigentlich war doch alles gesagt. Rebeccas Kinn sackte nach vorn. Nur keine Tränen, nicht jetzt und vor allem nicht hier, machte sie sich selbst Mut. Auf eine Enttäuschung mehr oder weniger kam es nicht an. Trotz der Schmerzen, die kaum noch zu ertragen waren.
Im Begriff, sich abzuwenden und an der Treppe, die einem Adelspalais Ehre gemacht hätte, wieder hinunterzuhangeln, blieb Rebecca auf dem Absatz stehen und suchte den Blick der blonden jungen Frau. Mehrere Sekunden hielt diese ihm stand. Dann tat sie so, als sitze ihr Uniformrock nicht und hantierte verlegen an ihrem Gürtel herum.
Zeit zu gehen. Wieder einmal. Doch dann, in der Erkenntnis, dass ihre letzte Hoffnung so gut wie zerronnen war, raffte sich Rebecca doch noch zu einer Frage auf. »Wie geht es Tom?«, fragte sie in beiläufigem Ton.
Die Reaktion ihrer Gesprächspartnerin hätte ungewöhnlicher nicht ausfallen können. Auf einmal wurde sie leichenblass, und ihr arrogantes Auftreten war dahin. »Ich wüsste nicht, was dich… was Sie das angeht!«, fuhr sie Rebecca in gedämpftem Ton an, warf einen Blick über die Schulter, trat aus dem Haus und zog rasch die Tür hinter sich zu.
»Und doch ist es so, Agnes!«, tat Rebecca so, als habe sie nichts bemerkt.
»Fräulein von Sydow, wenn ich bitten darf!«, schnappte das Musterbild einer Volksgenossin zurück.
»Meinetwegen!«, konterte Rebecca ungerührt.
»Das beantwortet jedoch nicht meine Frage!«
Anscheinend war genau dies der Ton, der bei ihrer Gesprächspartnerin Wirkung zeigte, denn sie senkte verlegen den Kopf. »Falls du es noch nicht weißt–«, stakste sie, »Vater, Mutter und ich haben seit fast vier Jahren nichts mehr von ihm gehört. Warum, dürfte dir doch wohl noch in Erinnerung sein.«
Natürlich war es das. Doch das war momentan nicht der Punkt. »Und ob!« Rebecca ging nicht weiter auf die Bemerkung ein. »Ist er immer noch bei der Kripo, oder hat er es sich inzwischen etwa anders überlegt?«
»Wenn du willst, frag ihn doch selbst.«
»Danke für den Vorschlag!«, parierte Rebecca gewandt. Nur um zu ihrer eigenen Verwunderung hinzuzufügen: »Und wo, sofern ich das Bedürfnis verspüre, könnte ich das tun?«
»Im Polizeipräsidium. Wo sonst?«
»Viel zu aufwändig!«, winkte Rebecca ab, drehte sich um und stieg die Treppe hinunter. Auf einmal war ihr alles gleichgültig, ihr Schicksal, die Zukunft, selbst die Gestapo, der sie früher oder später in die Arme laufen würde. Wohin sie jetzt gehen sollte, wusste sie nicht, und zum ersten Mal, seit sie sich auf der Flucht befand, ließ sie ihr Durchhaltewille im Stich.
Die Haustür war bereits halb offen, als sie ein Geräusch auf der Treppe aufhorchen ließ. Das Sonnenlicht, prall und grell, flutete in den Hausflur und sorgte dafür, dass die Gestalt auf der Treppe den Unterarm schützend vor die Augen hob.
»Gibt es noch etwas, das du mir zu sagen hast?«, fragte Rebecca und wandte sich zum Gehen.