Sydow zuckte die Achseln. Diesen schrulligen, ihm dennoch überaus sympathischen Kugelblitz mit Halbglatze und Lockenkranz in etwas hineinzuziehen, bei dem es ums nackte Überleben ging, wollte er nicht riskieren. Je weniger Behrens wusste, umso besser. Schließlich konnte man ja nie wissen. Bekanntlich war die Gestapo schon mit ganz anderen Leuten fertig geworden als ihm.
»Willst du mir nichts sagen, oder kannst du nicht?«
»Beides.«
»Dreck am Stecken?«
»Wer? Ich?«
»Quatsch–der da!« Behrens verdrückte den kümmerlichen Rest seiner Stulle, wischte sich die Brotkrumen vom Mund und trat an den OP-Tisch, der sich inmitten des unterirdischen, weiß gekachelten Raumes befand. Der Geruch nach Formaldehyd, Essigsäure und Lösungsmitteln machte ihm offenbar nicht das Geringste aus, und seine gute Laune wirkte echt. In einem Punkt ließ er gegenüber Sydow jedoch Gnade walten. Er zog das Leinentuch nur bis zum Bauchansatz hoch.
»Und?«, fragte Sydow ein wenig enttäuscht.
»Typisch Tom!«, raunzte ihn der Gefährte gemeinsamer Flegeljahre von der gegenüberliegenden Seite des OP-Tisches an. »Ohne jegliches Gespür für die Feinheiten meines Berufs! Gibs zu. Ohne mich wärst du doch glatt aufgeschmissen!«
»Wieso?«
»Schwer von Begriff, wie?«
»Normalerweise nicht.«
»Wenn dem so ist, möge der Herr Kriminalkommissar einstweilen einen Blick werfen auf das Gemächte des Herrn… wie war doch gleich sein Titel?«
»SS-Sturmbannführer Alfred von Möllendorf«, antwortete Sydow und beugte sich über den Tisch. »Und was soll daran so Besonderes sein?«
»Kein Anlass zu Neidgefühlen, ich weiß!«, frotzelte Behrens, wurde Zehntelsekunden später jedoch todernst. »Mal ehrlich! Kannst du wirklich nichts sehen?«
»Sollte ich?«
»Na klar doch, Alter.«
»Dann tu mir den Gefallen und klär mich auf!«
»Nichts lieber als das!« Behrens streifte einen Gummihandschuh über, richtete eine Halogenlampe auf den fraglichen Punkt und sagte: »Schwere Verbrennungen, Tom. Ausgerechnet da, wos bei uns Männern so richtig wehtut. Kapiert, was ich damit sagen will?«
Dass ihm erst jetzt ein Licht aufging, war Sydow ziemlich peinlich, aber lieber spät als nie. »Folterspuren?«, fragte er, wobei er instinktiv Abstand zu dem OP-Tisch nahm.
Behrens nickte. »Ein Feuerzeug, würde ich sagen. Sieht so aus, als hätten es die Kollegen aus der Prinz-Albrecht-Straße ganz genau wissen wollen.« Während er sprach, ließ der Pathologe das Objekt seiner Betrachtungen nicht aus den Augen. Sydow ließ sich jedoch nicht täuschen. Er kannte Behrens gut genug, um zu spüren, dass er seine Reaktion testen wollte.
Diese kam zwar, fiel jedoch einsilbiger aus, als es der Pathologe erwartet hatte. »Todesursache?«, fragte Sydow mit belegter Stimme, ohne an der Hypothese seines Freundes auch nur im Geringsten zu zweifeln.
»Das genau ist der Punkt!«, versetzte Behrens, verschränkte die Arme und sah Sydow prüfend an. Als keine Antwort kam, fuhr er mit der Zunge über die Oberlippe und fügte hinzu: »Unser Patient hier ist nämlich weder durch die Kugel noch an den Folgen der Folter und schon gar nicht aufgrund der Hämatome gestorben, die überall an seinem Körper zu finden sind.«
»Sondern?«
»Selbstmord, mein Lieber. Vor circa zehn bis zwölf Stunden.«
Sydow konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ziemlich verdutzt aus der Wäsche sah, sonst hätte sich Behrens sein Grinsen mit Sicherheit gespart. »Und wie?«
»Gift.«
»Und welches?«
»Na, was denn wohl? Zyankali.«
»Donnerwetter, Wolfgang, mein Kompliment!«
»Reine Routine!«, wehrte Behrens lächelnd ab.
»Deine Hypothese?«
»Komisch–aber ich wollte dich gerade das Gleiche fragen!«
»Mannomann.« Sydow legte das Röntgenbild beiseite, die Handballen an die Stirn und fuhr sich mit ihnen über die Schläfen. Einen Moment, der freilich nicht lange dauerte, hatte er das Gefühl, der Fall sei eine Nummer zu groß für ihn. Dann aber ließ ihn der Drang, einen Blick in den schwärzesten Abgrund seines Lebens zu werfen, nicht mehr los.
»Sieht so aus, als hätte der Herr Sturmbannführer ganz schön was auf dem Kerbholz gehabt.«
»Womit du sicherlich nicht ganz unrecht hast, Herr Kriminalhauptkommissar. Fragt sich nur, was.«
Ohne dass er eine Erklärung dafür parat hatte, tauchte vor Sydows Auge wieder das Bild auf, das Möllendorf zusammen mit Heydrich zeigte. Wie lautete die Widmung doch gleich? ›Marineschule Mürwick–Crew 22‹. Purer Zufall, wer weiß. Gut möglich, dass die beiden kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten. So was kam ja bekanntlich in den besten Familien vor.
Was aber, wenn das Gegenteil zutraf? Wenn Möllendorf und Heydrich ›alte Kameraden‹ waren? Sydow fuhr mit dem Zeigefinger an der Oberlippe entlang und dachte angestrengt nach. Selbst wenn sie es waren, hieß das natürlich noch lange nicht, dass Heydrichs Tod und die Folterungen, die Möllendorf hatte über sich ergehen lassen müssen, in direktem Zusammenhang standen. Diesbezüglich jedoch an einen Zufall zu glauben, brachte Sydow nicht über sich. Eines zumindest war klar. Möllendorf musste jede Menge Dreck am Stecken gehabt haben. Sonst hätte ihn die Gestapo nicht nach allen Regeln der Kunst durch die Mangel gedreht. Da musste schon viel zusammenkommen, dass ein hochrangiger SS-Angehöriger derart übel zugerichtet wurde. Viel mehr, als dass man auf die Idee kommen könnte, hier wurden lediglich alte Rechnungen beglichen.
»Und? Schon eine Idee?«, lauerte Behrens, der Sydow keinen Moment aus den Augen ließ.
»Das zu behaupten, wäre eine glatte Lüge.«
»Irgendwelche Zeugen?«
Als sei die Frage ein Signal für ihn, warf Sydow einen verstohlenen Blick auf die Uhr: 13.45 Uhr. Zeit, sich auf die Socken zu machen, wollte er den ominösen Anrufer nicht verpassen. So er denn überhaupt auf dem jüdischen Friedhof an der Pankower Chaussee auftauchen würde.
»Nicht dass ich wüsste!«, log Sydow, leider wiederum nicht besonders gut.
Behrens ging geflissentlich darüber hinweg. »Wenn du mich fragst, ist die Sache doch wohl ziemlich eindeutig«, lenkte er das Gespräch wieder auf seinen Kernpunkt zurück.
»Ach ja?«
»Aber klar doch!«, versetzte Behrens und schenkte sich ein Glas Apfelsaft ein. Sydow schluckte, ließ es jedoch bei einem Räuspern bewenden. Dieser Mann musste wirklich ein Gemüt wie ein Fleischwolf haben.
Oder kein bisschen Angst.
»Ad eins: Wenn er von seinen eigenen Leuten derart malträtiert wird, muss er ein ziemlich großes Sündenregister haben.«
»Stattgegeben.«
»Verbindlichsten Dank.« Behrens musste aufstoßen und das gleich mehrfach hintereinander. »Ad zwei: Worum es sich auch immer gehandelt haben mag–er hat dichtgehalten.«
»Sonst hätte er sich wohl kaum das Leben genommen.«
»Genau.«
»Was nichts anderes bedeutet«, kam Sydow der Mutter aller Rülpser zuvor, »dass der Gestapo daran gelegen ist, die Affäre Möllendorf nach Möglichkeit zu vertuschen. Wozu sich die Mühe machen, ihn extra auf einer Parkbank zu deponieren und einen Selbstmord vorzutäuschen, wenn man ihn ebenso gut hätte verschwinden lassen können? Auf eine Art, wie es schon Dutzende Male durchexerziert worden ist?«
Behrens knetete mit dem Zeigefinger an seiner Knollennase herum. »Vermutlich deshalb, um von den wahren Geschehnissen abzulenken. Einen hochrangigen SS-Angehörigen einfach verschwinden zu lassen, stelle ich mir nicht unbedingt einfach vor. Nach außen vielleicht, aber ganz bestimmt nicht intern. Im günstigsten Fall hätte es jede Menge Gerüchte gegeben. Und dem wollte man anscheinend aus dem Weg gehen. Was bedeutet, dass für Himmler und Co. einiges auf dem Spiel zu stehen scheint. Je kleiner der Kreis der Mitwisser, umso besser.« Behrens ließ einen Schwall Atemluft entweichen und sah Sydow nachdenklich an. »Verdammt heißes Eisen, das du da anfasst, Tom.«