Was also tun? Und überhaupt. Was war so wichtig, so wertvoll, dass dieses Verbrechersyndikat aus der Prinz-Albrecht-Straße den ganzen Laden aufgemischt hatte? Was zum Teufel hatte dieser Möllendorf ausgefressen, dass nicht nur er, sondern mittlerweile auch Sydow und ein gewisser Erich Kalinke, wohnhaft in Berlin-Kreuzberg, auf der Abschussliste der Gestapo standen?
»Was haben Sie hier zu suchen? Und wie kommen Sie überhaupt hier rein?«
Die Waffe im Anschlag machte Kalinke eine Kehrtwendung, steckte sie aber sofort wieder weg. Ganz gegen sonstige Gewohnheiten waren seine Nerven nicht mehr die allerbesten. Die Kampfhenne an der Tür, der man die Zugehfrau schon aus 100Metern Entfernung ansah, war der lebende Beweis dafür. »Mein Name ist Kalinke, und ich komme durch die Tür!«, kalauerte er, was den Hausdrachen nur noch mehr gegen ihn aufbrachte.
»Wenn Sie nicht sofort sagen, weswegen Sie hier sind, rufe ich die Polizei!«
»Schon passiert!«, kostete Klinke seinen Triumph über die klapperdürre, mit Handtasche, Pelerine und Sonntagshütchen ausstaffierte Spätfünfzigerin in vollen Zügen aus. Der Dienstausweis, den er dem Hausdrachen vor die Nase hielt, durfte natürlich nicht fehlen.
»Da kann ja jeder kommen!«, schnappte die Frau zurück.
Klinke, dem der Sinn nicht nach langatmigen Erklärungen stand, ging gar nicht erst darauf ein. »Erich Kalinke, Kripo Berlin!«, fasste er sich betont kurz. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Erna Paschke.«
»Beruf?«
»Haushälterin.«
»Grund Ihres Hierseins?«
»Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt!«, keifte der Dragoner. »Wer gibt Ihnen überhaupt das Recht…«
»Ist es Ihnen lieber, wenn ich Sie mit aufs Präsidium nehme, oder beantworten Sie jetzt endlich meine Fragen?«
Das saß. Klinke staunte über sich selbst. Anscheinend war genau dies der Ton, den die Frau verstand.
»Ich wollte einfach nach dem Rechten sehen«, gab der Hausdrache seinen Widerstand auf.
»Und das ausgerechnet an einem Sonntag? Ach ja, wenn wir gerade dabei sind. Wo ist eigentlich Frau Möllendorf geblieben?«
»Von Möllendorf.«
»Na schön, wie Sie wollen! Wann hat die Gestapo Ihre Brötchengeberin abgeholt? Und keinerlei Belehrungen mehr, wenn ich bitten darf!«
Normalerweise hätte Erna Paschke jetzt Gift und Galle gespuckt. Ein Blick auf gut zwei Zentner angestauten Zorn überzeugte sie jedoch vom Gegenteil, und sie ließ es bei einem Naserümpfen bewenden. »Vor gut zwei Stunden.«
»Und woher wissen Sie das so genau?«
»Ich wohne schräg gegenüber.«
»Gut zu wissen. Und wieso haben Sie nichts unternommen?«
Die Frage war rhetorisch gemeint, verfehlte aber ihre Wirkung nicht.
»Gegen die Gestapo? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!«
»Und woher wissen Sie überhaupt, dass es die Gestapo war?«
Erna Paschke schlug die Augen nieder, umklammerte ihre Handtasche und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl sinken. Aus ihrem Blick, der wie ein Pendel zwischen ihren auf Hochglanz polierten Sonntagsschuhen hin- und herschwang, sprach die Anspannung, unter der sie offensichtlich stand. »Weil sie heute Morgen schon mal da waren.«
»Etwas präziser, wenn ich bitten darf.«
»So gegen 7.30 Uhr.«
»Und wer genau?«
»Drei Männer.«
»Aha.«
»Drei Männer, von denen mir einer sofort aufgefallen ist.«
Klinke kniff die Augen zusammen und baute sich drohend vor der wie ein Häufchen Elend zusammengekauerten Zugehfrau auf. »Etwa, weil er wie eine schlechte Kopie von Himmler aussah? Mit Brille, Schmiss und allem Drum und Dran? Ein Albino wie aus dem Panoptikum?«
Erna Paschke blickte scheu zu ihm auf und verneinte.
»Hat er ausgesehen wie ein Albino–ja oder nein?«, legte Klinke energisch nach.
»Ja!«, lautete die verzweifelte Antwort, nachdem Klinkes Gesprächspartnerin in ihr Taschentuch geschnieft hatte.
»Na also, warum denn nicht gleich!« Er hasste es, so mit den Leuten umzuspringen, aber schließlich stand eine Menge auf dem Spiel. Viel mehr, als diese Frau ahnte. »Und wie lange hat diese Stippvisite gedauert?«
»Nur etwa zehn Minuten.«
»So kurz?«
Erna Paschke nickte stumm.
»Und weiter?«
Das Gesicht seiner Gesprächspartnerin verformte sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse, und es kostete sie offenbar große Mühe, sich zu einer Antwort durchzuringen. »Keine drei Minuten, und ich hätte die Polizei gerufen!«, versicherte sie, während sich die Faust um ihr Taschentuch schloss.
Klinke ahnte, was jetzt kommen würde. Und stellte die Frage trotzdem. »Wieso?«
»Wieso, fragen Sie? Ganz einfach deshalb, weil man sie bis zu mir hinüber hat schreien hören!«
»Gibt es außer Ihnen noch jemanden, der Zeuge des Vorfalls geworden ist?«
»Bestimmt.«
Die Frage, die ihm auf der Zunge lag, behielt Klinke lieber für sich. Er kannte die Antwort auch so. »Wie lange stehen Sie eigentlich schon im Dienste der Familie?«, hielt er es für besser, das Thema zu wechseln.
»Neun Jahre, vier Monate und drei Tage.«
»Donnerwetter, da haben Sie aber genau Buch geführt.«
»Kann man wohl sagen.«
»Irre ich mich, oder klingt das nicht ein wenig resigniert?«
Klarer als mithilfe des Schweigens, das auf Klinkes Frage folgte, hätte Erna Paschke nicht antworten können.
Doch so schnell, noch dazu so kurz vor dem Ziel, gab Klinke nicht auf. »Mit anderen Worten, unter einer glücklichen Ehe stellt man sich etwas anderes vor.«
Wieder keine Antwort, bezeichnenderweise jedoch auch kein Widerspruch.
»Wie oft in der Woche sind Sie eigentlich hier?«
»Täglich.«
»Und wann?«
»Jeden Morgen um 8.30 Uhr.« Die Haushälterin der Möllendorfs sah Klinke händeringend an, die Züge noch verhärmter als zuvor. Der Frage, die unweigerlich folgen musste, wäre sie gerne aus dem Weg gegangen. Doch anders als sonst kannte Klinke kein Pardon.
»So auch vergangenen Mittwoch?«
Erna Paschkes Nicken, ein untrügliches Zeichen der Resignation, hätte deutlicher nicht ausfallen können. »Es war so wie immer!«, begann die Haushälterin, wobei sie Klinkes Blick geflissentlich mied. »Dem Krach nach zu urteilen, den die beiden hatten, war Herr von Möllendorf wieder spät in der Nacht nach Hause gekommen. Aber nicht, weil er zu viel zu tun hatte.«
»Sondern?«
»Mit der ehelichen Treue, um es dezent auszudrücken, hat er es nie sonderlich genau genommen. Das ging so weit, dass er sogar regelmäßig Bordelle besucht hat.«
»Und woher…?«
»Hier!«, antwortete Erna Paschke mit Nachdruck, nachdem sie ein bedrucktes Streichholzbriefchen aus ihrer Handtasche hervorgekramt hatte. »Deshalb!«
»... wissen Sie das?« Zur Abwechslung war es einmal Klinke, dem es die Sprache verschlug. ›Salon Kitty‹. Der aufgedruckte Schriftzug ließ keine Fragen offen.
»Um Ihre Frage vorwegzunehmen. Ich habe es beim Aufräumen gefunden. Unabsichtlich.« Die Haushälterin pausierte und sah Klinke angewidert an. »Unter seinem Bett!«
»Mit anderen Worten, er hat sich nicht groß Mühe gegeben, seine–höflich ausgedrückt–Eskapaden zu vertuschen«, vollendete Klinke und ließ das Streichholzbriefchen in seinem Jackett verschwinden.
»Höflich ausgedrückt, wohlgemerkt.« Je mehr sie sich in die Lage von Möllendorfs Frau versetzte, umso rücksichtsloser streifte Erna Paschke ihre Hemmungen ab. »Eigentlich war alles so wie sonst, nur eine Spur schlimmer.«
»Und wieso?«
»Selbst wenn ich mir die größte Mühe gegeben hätte. Es war einfach nicht zu überhören. Die gnädige Frau war außer sich. Wissen Sie, normalerweise hat sie alles einfach über sich ergehen lassen. Aber am Mittwoch war das anscheinend anders. Vor allem dem Herrn Gemahl dürfte das ziemlich klar geworden sein.«