»Gab es…?«
»Ob es einen Grund gab, wollen Sie wissen? Und ob!«
»Und der wäre?«
»Wie gesagt, zusammen mit Heydrich ins Bordell zu gehen, ist eine Sache, sich mit dem Führer, Himmler und Göring gleichzeitig anzulegen eine andere.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Das mit Heydrich?«, wich Erna Paschke aus, während sich ihr verhärmtes Gesicht spürbar aufhellte. »So was spricht sich schnell rum. Schneller, als man denkt.«
»Und die oberste Führung? Was hat die damit zu tun?«
»Keine Ahnung. Alles, was ich mitgekriegt habe, ist, dass der gnädige Herr behauptet hat, er habe sie alle in der Hand. Man stelle sich das einmal vor: den Führer, Reichsführer, Reichsmarschall und zu allem Überfluss auch noch den Propagandaminister so einfach zu…«
»Erpressen?«
Innerhalb einer Hundertstelsekunde geriet der Redefluss der Haushälterin ins Stocken. »Das haben Sie gesagt, nicht ich!«, beharrte sie in störrischem Ton.
»Schon möglich!«, lenkte Klinke ein. »Sonst noch was, das Ihnen aufgefallen ist?«
»Nicht, dass ich wüsste. Außer vielleicht, dass der gnädige Herr darauf gedrängt hat, seine Frau möge etwas für ihn aufbewahren.«
»Interessant–und was?«
»Keine Ahnung!«, warf die Haushälterin achselzuckend ein, erhob sich und rückte hastig den Hut zurecht. »Kann ich jetzt gehen?«
Klinke nickte, und bevor er etwas hinzufügen konnte, hatte sich die Wohnzimmertür hinter Erna Paschke geschlossen.
*
Im zweiten Stock, mit Schlafzimmer, Bad und Toilette geradezu luxuriös, das gleiche Durcheinander. Klinke fluchte, dass die Wände wackelten. Dieser Moebius wollte es anscheinend ganz genau wissen.
Die Dame des Hauses, mit der er immer mehr Mitleid bekam, hatte sich also mit dem Herrn Gemahl in die Wolle gekriegt. Und das aus mehrfachem Grund. Stammkunde im Puff–welche Ehefrau würde da nicht auf die Barrikaden gehen? Schlimmer noch: Auf der Abschussliste der Gestapo war SS-Sturmführer Alfred von Möllendorf der Spitzenplatz offensichtlich nicht mehr zu nehmen gewesen. Mutmaßlicher Grund: Erpressung im großen Stil. Oder zumindest der Versuch.
Äußerst riskant, keine Frage. Unter Umständen jedoch aber auch lukrativ. Klinke ließ den Blick durch das verwüstete Schlafzimmer schweifen. Aufgeschlitzte Matratzen, Kopfkissen, Bettdecken–diesem Trümmerfeld nach zu urteilen war hier jede Menge Wut im Spiel gewesen.
Oder, viel wahrscheinlicher, jede Menge Ratlosigkeit.
Was die Frage aufwarf, wonach die Gestapo suchte. »Hm.« Klinke machte ein nachdenkliches Gesicht. Das genau war der Punkt. Dass es sich bei dem Objekt staatspolizeilicher Begierde um den Gegenstand handelte, den die Dame des Hauses dem Willen des Herrn Gemahls zufolge hatte aufbewahren sollen, konnte man sich an fünf Fingern abzählen. Verhör, und das gleich mehrfach, möglicherweise Folter, darüber hinaus Erpressung im großen Stil–die Brisanz des Falles war wirklich nicht zu übersehen.
»Genug für heute, Herr Kriminalassistent!«, sagte Klinke mit Blick auf den Spiegel, der über der Frisierkommode hing. Wenn er sich so anstarrte, blass, ratlos und abgekämpft, wurde ihm der Schlamassel, in dem er und Sydow steckten, wieder einmal klar. Nur gut, dass Frau und Kinder außer Reichweite waren. Jetzt, wo es unweigerlich ans Eingemachte ging.
Hinter was, das so wichtig war, dass sich rein gar nichts mehr an Ort und Stelle befand, war die Gestapo her? Mit einer Brutalität, die selbst ihn überraschte? Was war so wichtig, dass es für Moebius kein Halten mehr gab?
Zurück im Erdgeschoss blieb Klinke auf der Schwelle zum Wohnzimmer stehen. Weshalb, war ihm selbst nicht so richtig klar, denn im Grunde hatte er die Nase voll. Hier drinnen, inmitten dieses Durcheinanders, konnte er nicht mehr viel ausrichten. Von der Spurensicherung, die bestimmt längst zurückgepfiffen worden war, ganz zu schweigen. Klinke kramte das Streichholzbriefchen mit dem anrüchigen Aufdruck hervor und sah es sich nochmals an. ›Salon Kitty‹. Na ja, wenigstens etwas, tröstete er sich, als sein Blick wie zufällig auf das Bild mit dem Schriftzug ›Marineschule Mürwick‹ fiel. Der Rahmen war noch intakt, die Glasfläche zersprungen. Kein Zweifel! Wer auch immer an der Suche beteiligt gewesen war, hatte es verdammt eilig gehabt. Und obendrein über Möllendorfs Verbindungen zu Heydrich Bescheid gewusst. Sonst, so Klinkes Schlussfolgerung, wäre das Bild nicht einfach in der Ecke gelandet.
Bis er Möllendorf ausfindig gemacht hatte, dauerte es nicht lange. Blond, drahtig, hochgewachsen. Ein Recke nach des Führers Geschmack. Was in besonderem Maße auf den Mann an seiner Seite zutraf, bei dessen Anblick Klinke der kalte Schweiß ausbrach.
Ein distanziert, fast ein wenig hochnäsig wirkender junger Mann mit auffällig langer Nase und kurz geschorenem Haar. Heydrich. Irrtum so gut wie ausgeschlossen. Sydow hatte wieder mal recht gehabt.
In diesem Augenblick, als Klinkes Augen dem Riss folgten, der die Glasscheibe in zwei Hälften und somit auch Möllendorf und Heydrich voneinander trennte, klingelte das Telefon. Das Bild in der Hand, rührte sich Klinke nicht von der Stelle. Dann aber, als seine Neugier die Oberhand gewann, klemmte er es sich unter den Arm und nahm ab.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung war ihm bestens bekannt. Bekannt und, nach den Erlebnissen des heutigen Tages kein Wunder, verhasst. »Tut mir wirklich leid, Ihre Ermittlungen zu stören!«, kam ihm Moebius um Sekundenbruchteile zuvor, während sich Klinke die Nackenhaare sträubten. »Aber ich denke, Sie sollten wissen, dass Sie seit Kurzem auf der Fahndungsliste der Gestapo stehen.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Wenn ich Sie wäre, würde ich mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, Herr Kriminalassistent!«
»Ihre hellseherischen Fähigkeiten in Ehren, Sie Versager, aber wenn ich Sie wäre, würde ich mich warm anziehen!«
Ein Lachen, wie es zynischer nicht hätte ausfallen können. »Und das ausgerechnet bei den derzeitigen Temperaturen.« Moebius kriegte sich vor Heiterkeit fast nicht mehr ein. »Wieso, wenn man fragen darf?«
»Weil Sie auf meiner Fahndungsliste stehen!«, entgegnete Klinke, hängte auf und wollte sich gerade aus dem Staub machen, als sein Blick die Erinnerungsplakette streifte, auf die er um ein Haar getreten wäre.
»Räumungsverkauf–und das zum Nulltarif!«, murmelte er in Sydow’scher Manier, ließ sie samt Erinnerungsfoto in seinem Jackett verschwinden und verließ fluchtartig das Haus.
21
Café Kranzler, Linden/Ecke Friedrichsstraße | 14.20h
»Und nicht vergessen, Genossin«, sank die Stimme des Führungsoffiziers zu einem beschwörenden Flüstern herab. »Sie sind es, auf der all unsere Hoffnungen ruhen.« Und dann, mit deutlichem Pathos: »Genosse Berija und insbesondere der Genosse Stalin, unser über alles geliebter Führer, verlassen sich auf Sie!«
Als ihr Führungsoffizier, gutaussehend, dunkelhaarig und elegant gekleidet, das Café verließ, atmete die attraktive Frau um die 30 auf. Typisch Radek, schluckte sie ihren Ärger rasch hinunter. Für ihren Geschmack war das Verhalten des Mannes, dessen wirklichen Namen sie nicht kannte, ausgesprochen leichtsinnig gewesen. Sie selbst, Agentin des NKWD, war da aus anderem Holz geschnitzt. Bei ihr war Vorsicht oberstes Gebot, sozusagen eine Lebensmaxime. Auf der Veranda des ›Kranzler‹, unter den Augen zahlreicher Flaneure, kam sie sich wie auf dem Präsentierteller vor.
Um ihr Glück nicht überzustrapazieren, rief die Frau den Kellner, zahlte und machte sich zum Aufbruch bereit. Sie wirkte gelassen, geradezu heiter, aber das war lediglich Fassade. Die Mission, mit der man sie betraut hatte, hörte sich wie das reinste Himmelfahrtskommando an, und sie fragte sich, warum die Wahl gerade auf sie gefallen war. Die Frau mit der modischen Sonnenbrille, brünettem Haar und hautenger Bluse samt geschlitztem Rock lächelte in sich hinein, denn eigentlich stellte sich die Frage nicht. Sie war Stalins beste Agentin, und sie wusste es. Wenn jemand Heydrichs Giftschrank auftreiben konnte, dann sie.