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Erst jetzt, nachdem ihr Führungsoffizier in der Menge untergetaucht war, drehte sie sich so unauffällig wie möglich um. Zwei, drei Paare, Spaziergänger und ein Kaffeekränzchen. Allem Anschein nach war die Luft rein. Ein typischer Sonntag: Unter den Linden, drückend schwül, aber friedlich und still. Um zu erkennen, dass sich Berlin im vierten Kriegsjahr befand, musste man schon genau hinsehen.

Und doch war es so. Kiew gefallen, Leningrad im Belagerungszustand, Moskau immer noch nicht aus dem Schneider. Der Sieg, so er tatsächlich kommen würde, war in weite Ferne gerückt. Die Miene der Frau verfinsterte sich, und auf ihrer Stirn zeigten sich tiefe Falten. Eines Tages, schwor sie sich, würden die faschistischen Aggressoren für alles bezahlen. Und sie, die von Stalin Auserkorene, würde den Anfang machen. Selbst auf die Gefahr hin, dass sie dabei ihr Leben ließ.

Während sie das Streichholzbriefchen mit der Aufschrift ›Salon Kitty‹ in ihre Handtasche steckte, ließ der brünette Vamp unter der Pergola die vergangenen fünf Tage Revue passieren. Fünf Tage, die es in sich gehabt hatten. Natascha, so ihr Deckname, konnte ihr Glück kaum fassen. Möllendorf. Dass ihr ein derart dicker Fisch ins Netz gehen würde, hatte sie nicht zu träumen gewagt. Ein leibhaftiger SS-Sturmführer, und, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, Vertrauter von Heydrich. Sie hatte mehr Glück als Verstand gehabt. Blieb zu hoffen, dass es ihr auch weiterhin treu bleiben würde. Zumindest so lange, bis ihr Auftrag erledigt war.

Ein zynisches Lächeln, von dem die übrigen Gäste nichts bemerkten, huschte über Nataschas Gesicht. SS-Sturmführer Alfred von Möllendorf, ein Judas wie aus dem Bilderbuch. Die Tatsache, dass Heydrich ausgerechnet ihm vertraut hatte, ließ ihn in puncto Menschenkenntnis wie einen blutigen Anfänger erscheinen. Obwohl, wie sie sehr wohl wusste, er dies selbstverständlich nicht gewesen war. Kein Parteibonze, der vor seinen Schnüffeleien sicher, kein Ereignis, das von ihm nicht mit Argusaugen beobachtet worden war. Dass hierzu unter anderem auch die deutsch-sowjetischen Geheimverhandlungen zählten, war der eigentliche Grund, weshalb sie von Berija auf seinen Giftschrank angesetzt worden war. Davon, hatte ihr Radek eingeschärft, dürfe auf keinen Fall etwas publik werden. Hitlers Jugendsünden, Görings Bestechlichkeit, Goebbels’ Amouren und Himmlers Verbrechen–alles gut und schön. Was allein zählte, war, dass an Stalins Bündnistreue keinerlei Zweifel aufkam. Die Folgen hiervon wären verheerend gewesen.

»Verzeihung, gnädige Frau–dürfte ich Sie wohl zu einem Aperitif einladen?«

Als einer ihrer Tischnachbarn, ein ›Möchtegern-Heesters‹ mit Bauchansatz, urplötzlich vor ihr stand, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper. Ein Griff in ihre Handtasche, ein gezielter Schuss aus ihrer Walther 7,65, und dieser Hinterhof-Gigolo hätte ausgespielt.

So weit durfte es aber nicht kommen. »Danke!«, wimmelte sie den selbsternannten Kavalier wie ein lästiges Insekt ab. Nur kein Aufsehen, fuhr es ihr gleichzeitig durch den Sinn. Der Grund, weshalb sie sich ein zusätzliches, wenn auch gekünsteltes Lächeln abrang.

»Dann vielleicht ein andermal?«

»Ein andermal–vielleicht«, erwiderte sie kühl, bevor ›Heesters der Zweite‹ den Rückzug antrat.

Glück gehabt. Kaum imstande, ihre Wut auf alles Männliche zu unterdrücken, begutachtete sie die rot lackierten Fingernägel, drapierte das schulterlange Haar und ließ den Verschluss ihrer Handtasche hörbar einrasten. Keine zehn Sekunden länger, und sie hätte sich etwas einfallen lassen müssen.

Natascha trank ihren Kaffee aus, erhob sich und steuerte mit wiegenden Schritten auf den Ausgang zu. Obwohl sie Männer abgrundtief hasste, war sie sich ihrer Wirkung auf sie durchaus bewusst. Sie genoss die Blicke, die sie ihr nachwarfen, die unzweideutigen Anträge, die man ihr machte, das indignierte Stirnrunzeln anderer, mit weniger optischen Reizen ausgestatteten Frauen. Aber all das änderte nichts daran. Mit Ausnahme ihres Vaters, dem einzigen Mann, dem sie jemals so etwas wie Zuneigung geschenkt hatte, kannte ihr Männerhass keine Grenzen. Es war ein Mann, der sie mit 14 vergewaltigt hatte. Es war ein Mann, genauer gesagt ihr Lehrer, der sie jahrelang drangsaliert hatte, und es war ein SA-Mann aus dem Wedding, der ihren Vater vor neun Jahren zu Tode gefoltert hatte.

Und es war ein Mann, Typ ›Johannes Heesters für Arme‹, der im Begriff war, sich an ihre Fersen zu heften. Sein Pech, denn er würde dafür mit dem Leben bezahlen.

So wie alle, die ihrer Mission im Wege standen.

22

Jüdischer Friedhof an der Pankower Chaussee | 14.30h

Der Grabstein war umgestoßen worden, der Davidstern mit Farbe besudelt, die Gebeine überall verstreut. Sydow konnte es einfach nicht fassen. Nicht einmal vor einem Friedhof hatte dieser Wahnsinn vor vier Jahren haltgemacht.

Dieser Wahnsinn, der bereits vier Menschen das Leben gekostet und neuerdings nicht einmal die Gestapo verschont hatte. Sydow war immer noch total von der Rolle. Die ganze Fahrt über hatte er über Kruppkes Exekution nachgedacht. Doch alles Nachdenken war sinnlos, er fand keine Erklärung dafür. Bei der Vorstellung, dass sich die Gestapo gegenseitig selbst dezimierte, hielt sich sein Mitleid natürlich in Grenzen. Trotzdem, so sein Fazit, ging hier etwas nicht mit rechten Dingen zu. Der Vorfall war so bizarr gewesen, dass er geglaubt hatte, er leide unter Halluzinationen. Das Einzige, was ihn davon abhielt, war die feste Überzeugung, den Hauptakteur, Kruppkes Begleiter, schon einmal gesehen zu haben. Und das nicht erst heute Morgen, sondern vor längerer Zeit.

Doch bevor er sich weiter Gedanken machte, musste er zusehen, die Spuren dieser Barbarei zu tilgen. Das war ganz einfach seine Pflicht, Gestapo hin oder her. Sollte ihm Moebius doch eine Kugel durch den Kopf jagen, wenn ihm der Sinn danach stand. Wer immer es war, dessen Ruhe hier gestört worden war: Er würde dafür Sorge tragen, diesen Frevel wieder wiedergutzumachen. Und wenn es das Letzte war, was er in diesem Leben tat.

Die Zeit verging, und Sydow arbeitete wie in Trance. Wie er auf den Gedanken kam, war im Grunde zweitrangig, aber als er sich verzweifelt abrackerte, den mit einem Hakenkreuz beschmierten Grabstein in die Höhe zu wuchten, wandten sich seine Gedanken fast automatisch der Vergangenheit zu. Und mit ihr der Frage, warum er nicht schon frühzeitig die Konsequenzen aus diesem Wahnsinn gezogen hatte. Keuchend vor Anstrengung hielt Sydow einen Moment inne und fuhr sich durch das schweißverklebte Haar. Gezogen hatte er sie, na klar, aber viel zu spät. Erst dann, als der Bruch mit seiner Familie unvermeidlich geworden war.

Was wohl aus Rebecca, ihrer Mutter und ihrem Vater, diesem begnadeten Klarinettisten, geworden war? Er hatte sie aus den Augen verloren, so die Entschuldigung, die im Grunde keine war. Er hätte sich um sie kümmern können, ja sogar müssen. Das Mindeste nach all dem, was ihnen im November 1938 angetan worden war.

Er hatte es nicht getan, allen Selbstvorwürfen zum Trotz. Und jetzt stand er hier, die Gestapo am Hals, vier Tote auf dem Gewissen, das Leben ruiniert. Wenn es mich schon erwischen soll, kam es ihm in einem Anflug von Sarkasmus in den Sinn, dann am besten gleich hier!

Auge in Auge mit dem Totenschädel, den er aus einem Wirrwarr von Efeu, Gestrüpp und vertrocknetem Laub geborgen hatte, jagte sein Leben mit atemberaubender Geschwindigkeit an ihm vorbei. Der Umzug nach England, die Diplomatenkarriere seines Vaters, die Schulzeit in…