»Woher wollen Sie eigentlich wissen, dass der Mann bereits tot gewesen ist?«
»Was für eine Frage, Herr Kommissar! Nach drei Jahren Krieg kriegt man ja wohl ein Gespür dafür.«
Sydow nickte. »Allerdings!«, stimmte er Helfrich zu. »Was dann auch der Grund war, weshalb Sie einige Stunden gebraucht haben, um sich dazu durchzuringen, mit uns zusammenzuarbeiten.«
»Volltreffer, Herr Kommissar. Gegen einen hohen SS-Offizier zu Felde zu ziehen, ist ja wohl äußerst risikoreich. Wenn nicht gar aussichtslos. Was mich zu der Frage bringt, welchen Nutzen meine Kooperationsbereitschaft hat. Diesen Albino vor Gericht zu zerren, ist ja wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Und wenn wir gerade dabei sind, was wird eigentlich aus mir?«
»Gute Frage!«, warf Sydow achselzuckend ein, und fuhr damit fort, die Spuren des Grabfrevels zu beseitigen. »Ehrlich gesagt, ich habe keinen blassen Schimmer. Eins kann ich Ihnen jedoch schon jetzt garantieren.«
»Und das wäre?«, fragte Helfrich gespannt, erhob sich und ging Sydow zur Hand.
»Dass ich mit Moebius auf Heller und Pfennig abrechnen werde. Auf meine Art.«
23
Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße 8
| 15.10h
Selbst ihn, der er gerade einen Mann exekutiert hatte, ließ der Anblick der halb tot geprügelten Frau nicht kalt. Um Kruppke, den Folterknecht, war es nicht schade gewesen. Aber das hier war etwas anderes.
Die Frau, bei der man schon genau hinsehen musste, um sie als Irene von Möllendorf zu identifizieren, kauerte im äußersten Winkel der Zelle. Wie ein waidwundes Tier, Spuren der Misshandlungen im Gesicht. Der Marder erschrak, und bei ihrem Anblick drehte sich ihm der Magen um. Ein Wunder, dachte er, dass die Frau überhaupt bei Bewusstsein ist.
Da nutzte es wenig, dass er Moebius hinters Licht geführt und der ihm seine Version von Kruppkes Tod abgekauft hatte. Die Sache hatte nämlich einen Haken. Auf Sydow, der es anscheinend ganz genau wissen wollte, wurde mit allen verfügbaren Kräften Jagd gemacht. Folglich musste er selbst sehen, wie er über die Runden kam. Er, der MI6-Agent, konnte jedenfalls nichts für ihn tun. Sonst würde seine Tarnung auffliegen. Und das konnte er nicht riskieren, den alten Zeiten zum Trotz.
Noch nicht.
Hauptsache also, Moebius hatte keinen Verdacht geschöpft. Und würde es auch in Zukunft nicht tun. Die Miene des Marders verfinsterte sich. Mit Moebius, dem Mann, der für all das hier verantwortlich war, würde er abrechnen, aber erst, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen war. Zuvor jedoch galt es, die gegenwärtige Situation zu meistern. Und die, bedeutete ihm sein Instinkt, war beileibe nicht einfach, um nicht zu sagen ausgesprochen prekär. Profan ausgedrückt, sie war zum Kotzen.
Um das menschliche Wrack, das man ihm zwecks ›Sonderbehandlung‹ überlassen hatte, nicht noch mehr in die Enge zu treiben, blieb der Marder regungslos stehen. Die Frau, von der er nicht wusste, ob sie nicht schon durchgedreht war, rührte sich auch nicht. Ihr Blick, sofern man dieses schreckerfüllte Starren überhaupt so bezeichnen konnte, ging ins Leere, und die zerquetschten Fingerkuppen waren nicht zu übersehen. Kein Körperteil, der ohne Blessuren geblieben war. Wenn er sie so anschaute, musste er aufpassen, dass ihm nicht der Gaul durchging.
Der Marder trat unschlüssig auf der Stelle. Zum ersten Mal, seit er hier eingeschleust worden war, hatte ihn seine Kaltschnäuzigkeit im Stich gelassen, und bevor er groß zum Nachdenken kam, war er neben der Frau niedergekniet und schloss sie in die Arme.
Gesetzt den Fall, jemand käme zur Tür herein, wäre er erledigt. Der Marder wusste es, kümmerte sich jedoch nicht darum. Warum er Kopf und Kragen riskierte, war ihm selbst nicht richtig klar. Klar war nur, dass er das, wozu ihn sein Gewissen drängte, aus Überzeugung tat.
Geraume Zeit gab die Frau keinen Laut von sich, rührte sich keinen Millimeter. Aber dann, als er schon befürchtete, Irene von Möllendorf sei tot, drang plötzlich ihre Stimme an sein Ohr: »Sie sind nicht von der Gestapo, stimmts?«
Der Blick des Marders begann zu flackern, und er hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte er und wandte den Kopf zur Tür.
Irene von Möllendorf, immer noch starr wie ein Leichnam, rang nach Worten. »Ich weiß nicht–aber irgendwie hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass Sie nicht vom gleichen Schlag sind wie Kruppke oder dieser… dieser…«
Der Marder hasste es, seinen Todfeind beim Namen zu nennen, tat es dann aber doch. »Moebius.«
»Genau.« Zum ersten Mal seit seinem Auftauchen rührte sich die Frau von der Stelle. Ein Zittern durchlief ihren Körper, und sie stöhnte leise auf. »Wie dem auch sei. Dass Sie nicht von der Gestapo sind, war mir von Anfang an klar. Spätestens dann, als mich Ihre beiden Kollegen in die Mangel genommen haben.«
Wovon die Frau sprach, nämlich von ihrer ersten Begegnung heute früh, war dem Marder nur allzu klar. Selbst jetzt, Stunden später, fröstelte ihn. Dass Kruppke es war, der ihr die Daumenschrauben angelegt hatte, änderte nicht das Geringste daran. Er war Zeuge eines Verbrechens geworden, aber nicht eingeschritten. Das war es, was ihm am meisten zu schaffen machte, Giftschrank hin oder her.
»Agent 004–Secret Service Seiner Majestät.« Das war er ihr schuldig, wenigstens das.
Anstelle einer Antwort wand sich die Frau in Krämpfen, und den Marder beschlich das Gefühl, dass ihre Tage definitiv gezählt waren. Falls dieses Dahinvegetieren überhaupt eine Frage von Tagen war.
»Angenehm!«, flüsterte ihm Irene von Möllendorf ins Ohr. »Und was kann ich für Sie tun?«
»Nichts!«, beteuerte der Marder, obwohl er wusste, dass das exakte Gegenteil zutraf.
»Mit… mit Verlaub, aber das kaufe ich Ihnen nicht ab.« Ein schmerzerfülltes Stöhnen entrang sich ihrer Kehle und hallte zwischen den Wänden der Zelle wider. Die Luft war stickig, roch nach Blut, Eiter und Schweiß. »Um Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Ich denke, es gibt da etwas, das Sie bestimmt interessiert.«
»Und was sollte das sein?«
»Das, wonach alle hier suchen.«
So zu tun, als wisse er von nichts, hatte jetzt keinen Zweck mehr. »Heydrichs Geheimakten?«, fragte der Marder, bemüht, möglichst ahnungslos zu klingen.
Die Andeutung eines Lächelns flog über Irene von Möllendorfs Gesicht. »Sie sagen es!«, keuchte sie.
Der Marder hörte gespannt zu. Aus Erfahrung wusste er, dass der alles entscheidende Moment gekommen war.
Und wurde nicht enttäuscht.
»Eigentlich war alles so wie immer«, begann sie. »Mit dem Unterschied, dass Alfred dieses Mal zu weit gegangen war.«
»Frauengeschichten?«
»Das auch. Wobei ich gelernt hatte, damit umzugehen. Womit ich allerdings nicht fertig geworden bin, ist, dass er sich immer wieder vor… vor Heydrichs Karren hat spannen lassen. Um es dezent auszudrücken.«
»So auch vergangenen Dienstag?«
»Genau. Leider war Alfred ein schwacher Mensch. Und das sollte ihm zum Verhängnis werden.«
»Die Mitschnitte auf Band?«
Irene von Möllendorf nickte. »Er ist blindlings in Himmlers Falle getappt. Zu denken, er könne ihm das Wasser reichen–einfach lächerlich! Wie dem auch sei. Am Mittwochmorgen, kurz vor Dienstbeginn, gerieten wir in Streit. So heftig wie nie zuvor. Es war wieder einmal sehr spät geworden–aber Schwamm drüber! Daran, wie gesagt, hatte ich mich ja… hatte ich mich bis zu einem gewissen Grad gewöhnt.«