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Sie legt sich ins Bett und steht wieder auf.

Sie schaltet die Plasma-Wand ein und schaltet sie wieder aus.

Sie setzt sich an den Schreibtisch, um etwas am aufgeklappten Laptop in ihr Tagebuch zu schreiben.

Und der Cursor hat hinter dem „21. Oktober“ geblinkt und geblinkt und geblinkt, und sie steht wieder auf.

Sie zieht sich die Hose runter, die Unterhose, setzt sich aufs Klo, und sie steht wieder auf, weil sie nicht pinkeln kann.

Sie schaltet die Plasma-Wand an und schaltet sie wieder aus.

03

Und Esther flüstert ihr ins Ohr: „Ist ja gut, es ist ja gut“ und hält sie und wiegt sie hin und her, und Wendy weint in ihre Schulter und spürt, wie Esthers Bluse ganz naß wird, und sie schaut Esther an und hält ihr Gesicht mit beiden Händen fest, und sie küssen sich, küssen sich auf den Mund, lange, und Wendy schließt die Augen dabei.

04

Die Windböen, Vorläufer des heraufziehenden Unwetters, haben ganz hinten, wo die Straße am Friedhof vorbeiführt, von den hohen Pappeln oder Birken die letzten Blätter geweht, gelb, braun. Der Pope oder wie auch immer der Pfarrer der griechisch-orthodoxen Kirche heißen mag, hat jetzt wieder zu sprechen begonnen, mit lauter monotoner Stimme. Das Ende seines langen Barts ist wie ein Schlips auf seiner rechten Schulter gelegen, und sie hat wieder auf den Sarg auf den Brettern über dem Loch, dem schwarzen Loch des offenen Grabs, den Schlund, geschaut und hat auf einmal weinen müssen, obwohl sie doch diese Beruhigungstropfen genommen hat, damit genau das nicht passiert.

Sie hatte an den Vati denken müssen — also Albert, nicht Costin: Costin ist der Papa —; daß sie den Vati, weil sie ja erst neun war, als er bei diesem Autounfall starb, daß sie den Vati, abgesehen von ein paar Erinnerungen, den Erzählungen von der Mama und den Fotos natürlich, den zwei, drei Urlaubsvideos, daß sie ihn gar nicht wirklich kannte, und daß sie sich in all der Zeit nach dem Autounfall, abends vor dem Einschlafen zum Beispiel, daß sie in all der Zeit mit dem Vati in Gedanken gesprochen hatte und daß sie sich vorgestellt hatte, daß der Vati ihr Tips bei Problemen geben, daß er sie von den Klassenfeiern abholen würde und dann alle ihren Vati sehen und ein bißchen neidisch sein würden, wie sie sich auf Spaziergängen bei ihm einhängen, wie er sie in den Arm nehmen würde, und sie hat gespürt, wie sehr sie sich doch in diesen letzten Monaten, als der Papa, also Costin, und sie sich so langsam angefreundet hatten, wie sehr sie sich da gefreut hatte, daß jetzt tatsächlich der Papa das für sie sein und das machen würde, was sie sich all die Jahre zuvor immer gewünscht hatte, ohne daß sie gewußt hatte, daß es ihn, Costin, gab, geschweige denn, daß er ihr richtiger Vater war, und ihr ist plötzlich wieder klargeworden, daß es jetzt zu all dem nicht mehr kommen würde, und diese Wünsche, die sie hatte, obwohl es eine Zeitlang möglich schien, nie mehr in Erfüllung gehen würden — — nie mehr.

Esther hat sich bei ihr eingehängt und ihr über den Arm gestreichelt. Wendy beruhigt sich, schluchzt noch ein paarmal auf, schaut auf den Sarg, wie er jetzt auf Kommando heruntergelassen wird.

Daß es das Gesteck aus gelben Rosen darauf nicht wegweht. .?

Sie hat kurz zur Mama neben sich geschaut.

Die Mama weint ja gar nicht —.

Steht nur da, mit weit aufgerissenen Augen hinter der Sonnenbrille, mit leicht geöffnetem Mund, den Blick auf dem Sarg, ganz unten, im Schlund des Grabs, kaum mehr zu sehen. Nur noch das Gesteck schimmert.

Wendy hat geglaubt — die ganze Zeit über, seit Beginn der Beerdigung —, gespürt zu haben, daß die Mama neben ihr weint. Der Mama wird es so ziemlich wie ihr selbst, Wendy, gehen. Sie wird gerade dabei zusehen, wie ihr zweites Leben, das sie sich so erhofft hatte, wie es buchstäblich begraben wird. Die Mama und sie haben nie wirklich darüber gesprochen, was eigentlich dazu geführt hatte, daß sie plötzlich Kontakt zu Costin aufgenommen hatte. Aber Wendy kann sich schon so ihren Reim darauf machen. Die Mama hatte endlich den Tod vom Vati überwunden, sie war jetzt noch nicht so alt, als daß man da nicht noch einmal was Neues aufbauen hätte können, 54 eben, und Wendy war fast erwachsen. Wendy weiß noch, wie nervös die Mama vor dem ersten Treffen mit dem Papa damals gewesen war — sie hatte Wendy ein wenig an ihr eigenes erstes Date erinnert — und wie die Mama danach im Bus gestrahlt hatte: Der Papa hatte ihr gefallen, das war zu sehen gewesen. Wendy hatte das damals, im Bus, überhaupt nicht in den Kram gepaßt, als ihr klargeworden war, daß es hier eigentlich mehr um die Mama als um sie selbst ging, und hatte was Böses gesagt. Aber die Mama hatte nur lächelnd aus dem Fenster geschaut und sich nicht die Laune verderben lassen. Wendy denkt an das Lied „No tears left to cry“ von den Los Angels. Die Mama. . hat keine Tränen mehr zum Weinen. Der Pope malt ein Kreuz in die Luft und spricht ein Gebet, das so ähnlich klingt wie das Vaterunser, aber nicht das Vaterunser ist.

Romy war nicht zu erreichen. Auf die Schnelle war nicht herauszubekommen, ob es ein Wallnersches Familiengrab gab und wenn, wo sich dieses befände, so daß sich Therese in Absprache mit Jo und Jennifer für eine Beerdigung in Berlin entschlossen hatte. Obwohl Jo und Jennifer gesagt hatten, daß Costin sicher nie in der letzten Zeit in der Kirche gewesen sei und seine im Ausweis als griechisch-orthodox angegebene Konfession ihm wahrscheinlich nicht viel bedeutet habe, hatte Therese auf ein „ordentliches Begräbnis“ bestanden, weil Therese selbst in der Kirche in Salzburg nach Vatis Tod sehr engagiert und Atheismus für sie indiskutabel war — erwies sich jemand in ihrem Bekanntenkreis als Atheist, wollte sie mit ihm, sofern ihre Bekehrungsversuche keine Wirkung zeigten, nichts mehr zu tun haben; für Therese war Costin eben einfach insgeheim der griechisch-orthodoxen Kirche zugetan gewesen, auch wenn er dies nie gezeigt hatte — was zählt, ist das Innere, so sie.

Der Pope hat jetzt nach seinem Nikolaushut gegriffen, auch die Hände der anderen, wie sagt man da? Trauergäste? Besucher? sind bei dem Windstoß automatisch an den Kopf gegangen, zu spät, da fliegt schon ein Hut, schwarz, durch die Luft. Der Hut gehört Jennifer. Jennifer steht neben Jo. Jennifer und Jo weinen nicht! Wendy macht es wütend, daß Jennifer und Jo nicht weinen. Wendy kann sich in diesem Moment genau vorstellen, daß Jennifer und Jo nur auf Costins Ableben gewartet haben und schon Pläne machen, wie sie das Label möglichst gewinnbringend für sich selber weiterführen, verwirft dann aber ganz schnell diesen Gedanken und schämt sich ein bißchen dafür, daß ihre Phantasie wieder mal mit ihr durchgegangen ist.

In einem Abstand zu den Trauergästen — ja, Trauergäste heißt das — steht eine in Schwarz gekleidete Frau mit Sonnenbrille, Mitte Dreißig vielleicht, das also muß Papas Ex-Gspusi sein, diese Romy, die Wendy nie getroffen hat. Therese hat sie einmal gesehen. Wendy wird, wenn man wieder sprechen darf, Therese fragen, ob das Romy war, wahrscheinlich ist sie voller Reue, diese Romy, Reue und Scham — ja, das klingt gut, voller Reue und Scham — darüber, daß sie den Papa so allein gelassen hat. . Andererseits ist es für Wendy immer schon unerklärlich gewesen, daß er mit so einer so lange zusammen war, da wußte man ja schon als Außenstehender, worauf diese Art von Frauen aus ist. Allerdings — Wendy sieht das jetzt — schneuzt sich Romy — wenn es denn Romy ist — in diesem Moment und wischt sich mit dem Taschentuch über die Wangen.

In der Gruppe von vielleicht 20, 30 Leuten neben Jo und Jennifer erkennt Wendy einige Gesichter von Indie-Rock-Ikonen, wahrscheinlich handelt es sich bei den meisten um BIBO-Künstler. Wendy hat sie noch nie in wirklich, sondern bisher nur auf Megadisc-Covern, in Zeitschriften und im Fernsehen gesehen. Tau zum Beispiel sieht aber eben in diesem Moment — bleich (ob echt oder geschminkt: egal, sie ist ja immer bleich), glatt gegeltes schwarzes Haar, nachdenklicher Blick — praktisch genauso aus wie auf dem Titelfoto der Modezeitschrift, in der Wendy noch im Salzburger Flughafen geblättert hatte.