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05

„25. Oktober

Ein Netz aus Intrigen hatte sich um den Leib gespannt, der jetzt im dunklen Schlund des Grabes verschwand. Und in der Tat: Der Plan der Verschwörer versprach aufzugehen. Mit scheinbar betroffenen Mienen standen sie am Grab des Plattenmoguls. Hinter ihren Taschentüchern aber lachten sie. Nur die Tränen und das laute Schluchzen der langjährigen Lebensgefährtin des Plattenmoguls waren echt gewesen. Nicht aber aus Trauer. Nein — aus Wut und Enttäuschung darüber, daß sie im Testament nicht bedacht worden war und ihr all das, wofür sie Küsse geheuchelt und ihre Beine breit gemacht hatte, vor ihren Augen von ihren Rivalen weggeschnappt worden war. Ihre Rivalen — das waren Sara, die einzige Tochter und Vertraute am Ende des Lebens des Plattenmoguls, sowie deren Mutter, Natascha März. Als Sara dies am Grab ihres Vaters bewußt wurde, da umspielte ihre Lippen für Sekunden ein Lächeln. Oh! Was für eine Genugtuung! Wenigstens die Intrige der Lebensgefährtin war durch den ansonsten so schwer zu ertragenden Tod ihres geliebten Vaters durchkreuzt worden!“

Wendy markiert den Text, den sie gerade auf ihrem Retro-Apple eingesprochen hat, und sagt: „LÖSCHEN.“

„25. Oktober

Die Beerdigung war schrecklich. Bewegend zu sehen, wie sie alle, alle kamen und weinten. Er war wirklich ein außergewöhnlicher Mensch. Was er alles geschafft und erreicht hat in seinem Leben! Ich fühle mich so klein im Vergleich zu ihm. Und er war von Anfang an so geduldig mit mir. Er hat sich so sehr eine Tochter gewünscht! Und ich mußte immer auf beleidigtes Mädchen machen. Hätte ich mich doch nur früher ihm so gezeigt, wie ich wirklich bin. Was muß er von mir gedacht haben? Ach Papa, wenn ich dir das doch noch sagen könnte.“

Wendy weint.

Sie markiert den Text bis „Ich fühle mich so klein im Vergleich zu ihm“ und sagt: „LÖSCHEN.“

„Ich bin dankbar für die Stunden, die wir zusammen verbringen durften. Wahrscheinlich hat er im Krankenhaus nicht mehr mitbekommen, daß ich extra aus Oxford gekommen bin und bei ihm war, als er gestorben ist. Aber es war richtig, daß ich da war — und wenn er mich wahrgenommen hat, hat er sicher das Zeichen verstanden, daß ich damit setzen wollte. Ich halte zu dir. Ich bin deine Tochter.“ Sie markiert den Text, den sie gerade diktiert hat, und sagt: „LÖSCHEN.“

„25. Oktober

Papas Beerdigung. Starker Wind. Die Hüte von den Trauergästen sind weggeflogen. Symbolik! Danach nicht mehr zum ‚Leichenschmaus‘, sondern gleich ins Hotel.“

06

Jetzt zum ersten Mal ganz allein in der Wohnung — Therese ist bei Jo und Jennifer im Label, was regeln —, ist Wendy ganz dasig gewesen und hat sich auf die Ottomane im Atelier gelegt. . Sie hatte gestern abend Therese Jos Schlüssel für Papas Wohnung gegeben, damit sie ein bißchen aufräumt. Wendy hätte das momentan nicht verkraftet: Hier reinkommen und das alles so sehen, wie Papa es verlassen hat, als er noch gelebt hat, vielleicht wäre sogar noch sein Geruch dagewesen. Jetzt riecht die Wohnung nach dem Reinigungsmittel, das sie auch immer zu Hause in Salzburg benutzen. .

Allerdings hätte Wendy Therese nochmals einschärfen sollen, nichts wegzuwerfen, ohne Wendy vorher zu fragen. Wendy möchte wissen: Wie hat ihr Papa gelebt? Was war ihm wichtig?

Nun hat aber Therese gesagt, daß sie, bevor Wendy aus dem Hotel hierherkam, diesen ganzen Papierkram verschnürt und entsorgt hat, der da überall, in den Regalen und auf dem Boden im Schlafzimmer lag, so Comic-Hefte, Costin habe wohl nichts wegschmeißen können, das habe vielleicht ausgesehen, ein richtiger Müllhaufen. Als dann Wendy, innerlich aufkreischend (NEEEEIIIN!!), ganz ruhig fragte: „Welche Hefte, bitte, wo entsorgt, bitte, um wieviel Uhr, meinst du, die sind noch da, ich kann die noch holen, wenn ich mich beeile, ich geh schon mal los“ —, da konnte ihr Therese nicht mehr genau sagen, in welchem Container sie die Comics deponiert hatte, „Irgendwo da bei diesem Park halt. . in Berlin muß man ja ewig nach so was suchen. . also so eine schmutzige Stadt. .“ Eine quick search seitens Wendys — zwei Straßen rauf, zwei Straßen runter — hatte zu keinem Ergebnis geführt, und so wichtig können diese Hefte dann auch nicht gewesen sein.

Auf dem Tisch in der Küche ist eine Vase mit einer roten Tulpe gestanden. Wendy muß an diese Bilder denken, die manchmal am Ende von Fernsehzeitschriften, in der Rätselecke, zu finden sind, Original und Fälschung. Die Wohnung ist jetzt so wie eines dieser Bilder, auf dem im Vergleich zum Original eine bestimmte Anzahl von Fehlern versteckt ist. Fehler: Mama. Originaclass="underline" Papa.

Wendy sieht an die weiße Zimmerdecke, schließt die Augen und gerät ins Tagträumen. In Gedanken geht sie durch die Wohnung. Jeder Gegenstand erzählt Wendy etwas. Da sind diese Aborigines-Bilder im Flur, so bunte Punkte, auf dem Boden liegt ein Quilt, den hat der Papa wahrscheinlich aus Australien. Das sind jetzt ihre Bilder, ist jetzt ihr Quilt. Wendy gehört die Wohnung. Wendy gehört das Label. OK — —: Ihr sind im Prinzip die Hände gebunden. Jo und Jennifer haben volle Entscheidungsfreiheit. Trotzdem. Wendy fragt sich, wie der Papa sich so als Besitzer des Labels gefühlt hat: Fühlt man sich mächtig, wenn man so ein Label hat? Oder hat man Angst, liegt in ruhigen Momenten hier auf dem Bett, mit geschlossenen Augen, und geht die Termine durch, die man die Woche noch wahrnehmen muß?

Das Wohnzimmer! Das Wohnzimmer ist geradezu ideal für kleine gepflegte Feiern. Papa hat hier oft kleine gepflegte Feiern mit Künstlern vom Label veranstaltet. Die KOPs waren hier, Tau war hier, und man hat auf den Erfolg des neuen Albums angestoßen. Der Papa ist oft mit dem Handy hier durch die Wohnung gegangen, Wohnzimmer, Flur, Schlafzimmer, Flur, Wohnzimmer, hat wichtige Gespräche geführt. Romy hielt sich die ganze Zeit über im Hintergrund. Lauerte. Hier ein Scheinchen für das neue Outfit, hier eine Überweisung für das neue Demo. Zunge raus — schnapp! Geld weg. Romy, die Schlange. Obwohl das Bettzeug frisch gewaschen ist, haben vorhin noch ein, zwei lange schwarze Haare darin gelegen, Romy-Haare; wahrscheinlich überall in der Wohnung, auf dem Teppich, auf dem Boden: ihre Schuppen, klein und spitz und glitzernd, wenn die Sonne hier in der Früh reinscheint.

Im Morgenlicht vorhin auch besonders auffallend: die hellen Umrisse an der Wand, die Abdrücke auf den Teppichen, dort, wo einmal Sachen von Romy standen, Bilder, Möbel und so weiter, die sie bei ihrem Auszug mitgenommen hatte. Das Atelier zum Beispiel ist bis auf den Schreibtisch, einen Stuhl und die Ottomane in der Ecke vollkommen leergeräumt. OK. Ein Foto steht da noch, auf dem Tisch, in einem silbernen Bilderrahmen, dieses Foto von Papa, wie er vielleicht 20 war, im Anzug, neben einer Frau, die, dem Aussehen nach, seine Mutter sein könnte. Die Nase, der Mund, das Haar. Wendy sollte nach Bildern suchen, um zu wissen, wie Costins Mutter, also Wendys Oma, ausgesehen hat. Im Hintergrund ist auf dem Foto ein Tisch mit Essen zu erkennen, ein Buffet, um das Leute stehen. Das Foto wird auf der Abizeugnisverleihung vom Papa aufgenommen worden sein. Papas Vater wird das Foto gemacht haben. Das Foto muß nach all den Jahren wichtig gewesen sein für den Papa. Vielleicht, weil er da besonders glücklich war. Vielleicht hat er’s angeschaut, wenn er gar nicht mehr wußte, wie seine Mutter ausgesehen hat, wenn er sie vermißt hat. .

Das Foto als unumstößlicher Beweis für die Realität.