Nie hatte es Durotan mit größerer Ehre erfüllt, sich Garads Sohn nennen zu dürfen als an diesem Tag, als sein Vater aus der Hütte trat. Er ging so hochaufgerichtet wie ehedem, und seine dunklen Augen funkelten vor berechtigtem Zorn. Orgrim hatte bereits mit den Kriegern des Klans gesprochen, die meisten von ihnen trugen ebenfalls schon ihre Kampfrüstung.
„Frostwölfe!“ Garads Stimme hallte laut wider. „Mein Sohn bringt Neuigkeiten über Eindringlinge in unserem Wald. Orcs, die sich unserem Gebiet nicht offen nähern, wie eine Jagdgruppe es tun würde. Nein, sie schleichen umher und verstecken sich. Sie hacken Äste von unseren Bäumen, und sie stinken nach altem Blut.“
Durotan musste ein instinktives Schaudern unterdrücken, als er sich an den Geruch erinnerte. Das Aroma von frischem Blut, vergossen im Namen von Nahrung oder Ehre, wäre für jeden Orc ein angenehmer Geruch. Altes Blut hingegen, dieser abgestandene, modrige Gestank … Kein Orc würde einen solchen Geruch freiwillig dulden. Ein Krieger mochte sich mit Blut besudeln, aber danach wusch er es ab und trug frische Kleidung, um den Sieg zu feiern.
Waren dies vielleicht die Rotläufer, von denen Gul’dan gesprochen hatte? War dies der Grund, warum sie sich so nannten – weil sie stets vom Blut ihrer getöteten Beute bedeckt waren? Als der grüne Orc sie erwähnt hatte, hätte Durotan sie mit offenen Armen im Territorium der Frostwölfe willkommen geheißen; jeder Orc, der sich dem Hexenmeister verweigerte, verdiente Respekt. Oder zumindest hatte er das geglaubt, bis er ihren Geruch wahrgenommen hatte.
Wenn etwas getötet wurde, sollte man es weiterziehen lassen – die Seelen von Orcs ebenso wie die ihrer kleinen Brüder und Schwestern, etwa den Grollhufen, bis hin zum kleinsten Schneehasen. Sie wurden erschlagen oder gegessen oder verbrannt und kehrten zu Erde, Wasser, Luft und Feuer zurück. Ihr Fell wurde gesäubert, ihre Haut gegerbt; nie trug man sie blutig oder verrottend.
Die Vorstellung erfüllte Durotan mit Abscheu – ebenso wie die anderen Frostwölfe, als sie aufmerksam den Worten ihres Häuptlings lauschten.
„Wir reiten aus und stellen diese Eindringlinge“, fuhr Garad fort. „Wir werden sie aus unseren Wäldern vertreiben oder sie niederstrecken, wo sie stehen!“
Er hob Spalter über seinen Kopf und brüllte: „Lok’tar ogar!“ Sieg oder Tod.
Die Frostwölfe stimmten in den Ruf mit ein und setzten ihn fort, während sie zu ihren ebenso erwartungsvollen Wölfen rannten. Durotan sprang auf Scharfzahns Rücken und warf einen kurzen Blick über die ungepanzerte Schulter zu seinem Vater. Einen winzigen Augenblick lang konnte er auf Garads Zügen die Müdigkeit sehen, die ihn vor Kurzem noch auf sein Schlaffell gefesselt hatte. Doch dann verscheuchte der Häuptling diesen Ausdruck, zweifelsohne unter großer Anstrengung und mit schierer, sturer Entschlossenheit.
Mit einem Mal hatte Durotan Probleme zu schlucken, so, als würde ihm eine unsichtbare Hand die Kehle zudrücken.
Garad zwang sich, seine trägen Gedanken auf das Ziel zu konzentrieren, während er dahinritt. Die Frostwölfe näherten sich schnell und weithin sichtbar der verwundeten Baumgruppe. Sein Sohn und Orgrim hatten die Fußspuren von sieben Personen gesehen, aber zweifelsohne befanden sich noch mehr Orcs hier. Womöglich waren die Eindringlinge ihnen zahlenmäßig sogar überlegen, zumal die Frostwölfe noch nie ein allzu großer Klan gewesen waren. Eines war jedoch sicher: Weder Durotan noch Orgrim hatten Anzeichen dafür entdeckt, dass die Fremden Wölfe bei sich hatten. Letztlich würden es die Rotläufer – sofern sie es wirklich waren – nicht nur mit zwanzig Kriegern zu tun bekommen, sondern mit der doppelten Zahl an Gegnern. Ihre Wölfe sahen in ihren Reitern nämlich mehr Freunde als Meister, und sie waren dazu ausgebildet, an der Seite der Orcs zu kämpfen.
Das sollte ausreichen, um den Feind auszulöschen. Zumindest hoffte Garad das. Ebenso musste er hoffen, dass er lange genug durchhalten würde, um zu erledigen, weswegen er hergekommen war, und dann wieder nach Hause zurückzukehren. Dort könnte er dann weiter gegen diese lähmende, verfluchte Schwäche ankämpfen.
Die Symptome ähnelten denen eines Bisses durch ein primitives, aber gefährliches Insekt, das die Orcs „Gräber“ nannten. Das Opfer litt tagelang an Kraftlosigkeit, und die Weise, wie man dabei Energie und Stärke verlor, war für Orcs besonders erschreckend. Schmerzen, Krämpfe, ein gebrochener Arm – vor so etwas hatten sie keine Angst. Doch die Lustlosigkeit und Lethargie, die dieses Insekt brachte? Das erfüllte sie mit wahrem Grauen.
Allerdings hatten weder Geyah noch Drek’Thar Spuren eines Gräberbisses gefunden. Auch hatten die Geister Drek’Thar nichts – rein gar nichts – über die Natur dieser mysteriösen Krankheit verraten können. Als Durotan mit seiner Geschichte über Eindringlinge und den Gestank von Blut hereingestürmt war, hatte Garad sofort gewusst, dass es ein Zeichen war. Er würde sich erheben und kämpfen. Er würde sich zusammennehmen und dieses Übel besiegen, genauso, wie er jeden anderen Feind niedergerungen hatte.
Ein Sieg würde auch der Moral des Klans guttun. Gul’dans düstere Prophezeiung, seine beunruhigende Präsenz, seine seltsame Sklavin und vor allem seine grüne Haut – all das hatte einen unheilvollen Schatten über die Frostwölfe geworfen. Das Blut eines Feindes zu vergießen, würde sie mit einer Woge neuen Mutes erfüllen. Auch Garad sehnte sich danach, wieder das heiße Blut eines gerecht erschlagenen Feindes zu spüren. Vielleicht war dies ein Test, den die Geister ihm auferlegt hatten, und ein Sieg würde ihm seine Stärke zurückgeben. Schon in der Vergangenheit war der Klan – und auch sein Häuptling – von Krankheit heimgesucht worden. Und genau wie in der Vergangenheit würde er sie auch diesmal überwinden.
Die arroganten Eindringlinge hatten eine breite Spur hinterlassen, ihre Fußabdrücke bildeten dunkle Flecken im plattgetrampelten Schnee. Die Frostwölfe folgten diesen Abdrücken von den verletzten Bäumen fort und löschten die Spuren dabei durch die ihrer eigenen Reittiere aus. Die Fährte führte zur grauen Wölbung des Vorgebirges, über dem, verborgen hinter den niedrigen Wolken, der Gipfel des Altvaterberges aufragte.
Die seltsamen Orcs erwarteten sie bereits, und Garad war froh darüber.
Es waren lediglich siebzehn, und sie standen in einer Linie nebeneinander, hochaufgerichtet und schweigsam. Im Gegensatz zu den Frostwölfen, deren Rüstungen und Waffen ihr nordgebundenes Erbe widerspiegelten, trugen die Eindringlinge ein seltsames Durcheinander von Rüstungsstilen zur Schau – abgekochtes Leder, Fell, Metallplatten. Auch ihre Waffen waren bunt zusammengewürfelt.
Doch das war es nicht, was einige der Frostwölfe abrupt anhalten ließ. Es waren die Handabdrücke aus verkrustetem, dunklem, getrocknetem, stinkendem Blut, welche die Rüstungen, die Haut, die Gesichter der Fremden bedeckten.
Ein Orc, der größte und körperlich einschüchterndste der Gruppe, stand in der Mitte der Linie, ein paar Schritte vor den anderen – vermutlich der Anführer. Sein Schädel war kahlgeschoren, und er trug keinen Helm.
Garad musterte den Orc voller Verachtung. Diese Rotläufer, so sie denn welche waren, würden im Norden nicht lange überleben. Hier, in den kalten Landen, ließen Krieger ihr Haar wachsen und bedeckten ihre Köpfe; Orgrim war der einzige Frostwolf, der sich dem widersetzte. Haare und Helme halfen dabei, den Körper vor der Auskühlung zu bewahren – und dafür zu sorgen, dass besagter Kopf auf den Schultern blieb. Garad würde diesen kahlen Schädel abschlagen, zusehen, wie er im Schnee landete und ihn mit seinem heißen Blut schmelzen ließ.
Vor dem Aufbruch hatte Geyah ihn gedrängt, ja, fast schon angefleht, dass er sich aus dem Schlachtengewühl heraushalten sollte. So etwas hatte sie noch nie getan, und ihre Furcht hatte ihn noch mehr beunruhigt als seine Krankheit. Er kannte keinen Orc, der mutiger war als sie, aber jetzt sah er, dass sie eine Schwäche hatte: ihn. Sie waren schon so lange ein Paar, dass er gar nicht mehr in der Lage war, sich ein Leben vorzustellen, in dem sie nicht an seiner Seite in den Kampf stürmte. Doch nun war er hier, allein, und er wusste, warum sie entschieden hatte daheimzubleiben.