„Draka, Tochter von Kelkar, Sohn von Rhakish“, beendete Durotan den Satz mit einem Grinsen.
Fast wie betäubt schritt er neben ihr her, als sie zu den Feiernden zurückgingen, Drakas Opfergeschenk über Scharfzahns Rücken gelegt. Sein Herz wollte schier überquellen. Gewiss war dies ein Zeichen der Geister, dass sich die Dinge bald zum Besseren wenden würden. Noch nie hatte er gesehen, dass jemand aus dem Exil zurückkehrte, und es schien ihm eher Schicksal als Zufall, dass es ausgerechnet Draka war – ein Sinnbild dafür, wie sich Schwäche in Stärke wandeln konnte – und dass sie ausgerechnet dann auftauchte, als der Klan Stärke am dringendsten brauchte.
Man hieß sie wie einen heimkehrenden Helden willkommen, und soweit es Durotan anging, war sie das auch. Sie war kaum mehr als Haut und Knochen gewesen, schwach und zerbrechlich, beinahe so dürr wie die Sklavin, die Gul’dan begleitet hatte. Doch jetzt war sie muskulös, kräftig, entschlossen. Er wusste noch, dass jeder – und vermutlich sogar sie selbst – überzeugt gewesen war, dass sie der sichere Tod erwartete, aber sie hatte vor niemandem den Kopf gebeugt, als sie davongegangen war. Und ebenso stolz war sie, als sie nun zu ihnen zurückkehrte.
Ihre Eltern waren während der zwei Jahre ihres Exils gestorben, aber Geyah war da, um sie herzlich in die Arme zu schließen. Draka stand zunächst stockstarr, doch dann schoben sich ihre Hände langsam nach oben, und sie erwiderte die Umarmung der älteren Frau. Drek’Thar lächelte breit, und seine Stimme zitterte, als er ihr den formellen Segen des Klans gab. Durotan überließ ihr daraufhin den Steinernen Sitz, und nach kurzem Zögern nahm sie die Ehre an. Er schnitt ihr persönlich ein tropfendes Stück gebratenen Fleisches ab, das sie hungrig verschlang. Sie war muskulös, aber extrem schlank; nicht ein Pfund überflüssigen Fleisches rundete ihren Körper. Durotan sorgte dafür, dass sie sich satt essen konnte und dass niemand sie währenddessen mit Fragen überhäufte.
Schließlich lehnte sich Draka mit einem Seufzen zurück und legte eine Hand auf ihren vollen Bauch. Ihr Blick glitt über die Szene auf der Wiese. „Durotan. Ich trauere um deinen Vater.“
„Er starb im Kampf“, erklärte der junge Häuptling. „Trauere nicht.“
Sie blickten einander einen langen Moment an, dann sagte sie: „Weißt du, fast wäre ich nicht zurückgekehrt.“
„Warum nicht?“
Sie lachte humorlos und starrte in die tanzenden Flammen des Freudenfeuers. Seine Wärme war willkommen, jetzt, wo die Sonne untergegangen war. „Ich war eine Verbannte. Mein Klan hatte sich gegen mich gewandt.“
Durotan spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. „So ist es bei uns Sitte, Draka.“
„Und genau darum bin ich erst nicht zurückgekommen. Es war …“ Sie schüttelte den Kopf. „Den Frostwölfen ist es gut ergangen. Andere hatten nicht solches Glück. Die Welt dort draußen ist hart, Durotan, Sohn von Garad.“
„Die Welt hier ist es ebenfalls.“
Mit durchdringenden, braunen Augen drehte sie sich zu ihm herum. „Die Welt dort draußen ist größer als das hier.“
„Wie ist es dir ergangen? Wie hast du überlebt? Was hast du gesehen? Ich möchte alles hören.“
Draka musterte ihn. „Warum?“
Es gab viele Gründe, jeder von ihnen völlig ausreichend als Begründung für den Häuptling eines Klans. Dennoch zögerte er. „Hier sind … Dinge geschehen. Ich werde dir davon erzählen, aber erst möchte ich wissen, was du gesehen hast.“
„Aus welchem Grund?“, beharrte sie.
„Ich bin jetzt Häuptling. Ich muss die Frostwölfe schützen, so gut ich es nur kann. Du bist jetzt wieder ein Frostwolf – sofern du das möchtest. Du kannst ihnen helfen … uns helfen.“
Draka lächelte. „Und?“
Er antwortete nicht sofort. Er schuldete ihr nichts, was ein Häuptling nicht auch irgendeinem anderen zurückgekehrten Exilanten schuldete – das Angebot, wieder ihren Platz im Klan einzunehmen. Doch da war etwas Besonderes an ihr, etwas, das ihn wünschen ließ, er wäre nicht der Häuptling und müsste nicht ständig aufpassen, dass er die richtigen Worte sagte und mit gutem Beispiel voranging und vernünftig handelte.
„Ich habe gesehen, wie du das Dorf verlassen hast“, sagte er nach einer Weile. „Du gingst hochaufgerichtet und stolz, obwohl du so schwach warst, dass das Gewicht deiner Tasche dich fast erdrückt hätte. Du hast nicht zurückgeblickt. Für mich war das das Tapferste, was ich je gesehen habe. Letztes Jahr stand ich dort drüben und habe nach Westen geblickt und mich gefragt, ob du wohl zurückkommen würdest. Aber du kamst nicht.“
„Jetzt bin ich hier“, erwiderte sie mit gedämpfter Stimme.
„Ja, das bist du.“
Draka lachte leise. Ihr Blick suchte furchtlos den seinen, als hätte sie sich durch ihr Überleben das Recht verdient, ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Vielleicht stimmte das sogar. Nach ein paar Sekunden schien sie eine Entscheidung zu treffen, erhob sich vom Steinernen Sitz und streckte ihren langen, kräftigen Körper. Anschließend legte sie sich auf den Boden und beobachtete den Rauch des Feuers, der sich wie ein grauer Schweif in die Höhe wand, so, als wollte er die Sterne erreichen.
„Seit dem Beginn der Zeit“, erklärte sie schließlich, „war der Süden üppig und unser Norden, unser Frostfeuergrat, karg. Das weiß jeder. Wir waren stolz, weil wir nicht faul wurden, weil die Herausforderungen hier uns stark machten. Das war der Grund, warum wir Frostwölfe sind und nicht irgendein anderer Klan. Darum war ich froh um diese Herausforderungen. Sie sind auch der Grund, warum ich in gewisser Weise auf das vorbereitet war, was ich sah – im Gegensatz zu den Orcs im Süden. Obwohl ich nur eine Vertriebene war, wusste ich, was von einem Frostwolf erwartet wird. Mein Körper war vielleicht schwach, aber mein Herz …“ Sie ballte die Faust und schlug sich damit fest gegen die Brust. „Mein Herz war stark. Mein Herz und mein Kopf haben mich am Leben erhalten. Ich war aufmerksam. Schlau. Jedenfalls aufmerksam und schlau genug, um am Leben zu bleiben, bis mein Körper ebenso stark wurde.“
Er betrachtete sie eingehend, bis er erkannte, dass es aussehen musste, als würde er sie anstarren. Also legte er sich neben sie auf den Boden, ohne sie zu berühren, und sie blickten gemeinsam zum Himmel empor. Er beneidete die Sterne um ihre Gleichgültigkeit.
Draka fuhr fort: „Ich hätte bei der letzten Sommersonnenwende zurückkehren können, aber ich entschied mich dagegen. Ich fragte mich, ob ich aus einem besonderen Grund schwach geboren wurde, ob ich aus einem besonderen Grund ins Exil geschickt wurde. Vielleicht war es mir bestimmt, zu erfahren, was noch dort draußen ist. Also ging ich auf eine Reise.“
„Wohin bist du gegangen?“ Hätte er es geschafft, so etwas zu tun? Der Klan war so wichtig, seine Mitglieder so eng miteinander verbunden. Wäre sein Herz stark genug gewesen – so stark wie Drakas –, oder wäre es gebrochen, unfähig, seine Familie und ihre Traditionen hinter sich zu lassen? Und selbst, falls er es geschafft hätte, ein Jahr allein zu überleben, hätte er es danach über sich gebracht, einfach fortzugehen, zu erforschen, was es noch dort draußen gab?
„Ich war an vielen Orten. Im Süden, im Westen, im Osten, im Norden. Ich habe von einem Berggipfel im Osten den Sonnenaufgang beobachtet. Ich habe mich in einem Wald verirrt, der so alt war, dass der Altvaterberg im Vergleich dazu jung wirkt. Ich habe gelernt, viele Dinge zu jagen und zu essen. Welche Pflanzen man gefahrlos verzehren kann und welche nicht.“
Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Der Schein des Feuers ließ ihre Augen orange schimmern.
„Dort draußen herrscht ein Leid, das es hier nicht gibt. Noch nicht. Krankheit. Abscheulichkeit. Die Dinge sterben nicht nur, sie …“ Draka suchte nach den richtigen Worten. „Sie werden verzerrt, bevor sie sterben. Es ist schwer zu erklären.“
„Bist du anderen Orcs begegnet?“
Sie nickte. „Ja, von vielen verschiedenen Klans. Manche gehörten zu Jagdgruppen, wie wir sie hier auch schon getroffen haben. Sie erzählten Geschichten über das Land, und sie verrieten mir, wie hungrig und wie verängstigst sie waren.“