„Das haben sie gesagt?“
Sie lachte. „Nicht mit Worten. Aber ich konnte es an ihnen riechen. Sie hatten Angst, Durotan.“ Kurz verstummte sie, dann fuhr sie fort: „Ich habe auch andere gesehen. Eine Weile bin ich mit den Draenei durchs Land gezogen.“
„Was?“ Durotan war überrascht. Er wusste, dass die meisten Draenei im Süden lebten, aber ein paar hatten sich auch in der Nähe des Frostfeuergrats angesiedelt. Nur ein einziges Mal hatte er sie gesehen, aber er war fasziniert gewesen von ihrer blauen Haut, ihren gekrümmten Hörnern, ihren langen Schwänzen und ihren hufbewehrten Füßen, die ihnen größere Ähnlichkeit mit Talbuks als mit Orcs verliehen. Angeblich waren sie in diese Gegend gekommen, um sich zu verstecken. Garad hatte gesagt, dass sie sich ständig versteckten. Die Draenei waren bekannt für ihre Scheu, und wann immer die Frostwölfe ihnen begegneten, verschwanden sie sofort außer Sicht. Weil die beiden Völker einander mieden, gab es aber auch nie Konflikte zwischen ihnen. Die Draenei waren nie aggressiv, drangen nie ins Territorium der Frostwölfe ein, und Garad hatte die Überzeugung vertreten, dass nur ein Narr, der sich stark fühlen wollte, den Kampf mit jemandem suchte, der ihn nicht herausforderte.
„Nur eine kurze Zeit lang. Ich begegnete ihnen auf der Jagd. Sie waren gütig und weise und schenkten mir das hier.“ Sie hielt die Kette hoch, die Durotan schon zuvor aufgefallen war. Selbst im schwachen Licht glänzte der Kristall noch. „Sie hatten ein kleines Lager errichtet, das sie Zuflucht nannten, nördlich von hier, an einem sicheren Ort, wo sie sich auf ihren Reisen ausruhen konnten. Einmal nahmen sie mich dort auf, als ich mich verletzt hatte und mich erholen musste. Sie sind nicht, wofür wir sie gehalten haben.“
„Aber sie wirken so …“ Wie sollte er es ausdrücken? „Passiv. Sie kämpfen nicht. Selbst Talbuks verteidigen sich.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Sie kennen Ehre, und sie sind stark, nur eben auf eine andere Weise als wir. Wir haben einander geholfen.“
„Wie?“ Draenei sprachen Kauderwelsch. Drakas Lachen war laut und herzlich.
„Sie sind uns ähnlich genug, um sich verständlich zu machen. Ich lernte sogar ein paar Worte und Sätze in ihrer Sprache. Sie sind keine Orcs, aber sie sind auch keine Tiere. Ich bereue mein Exil nicht, Sohn von Garad. Dein Vater dachte vielleicht, er würde mir einen ehrenvollen Tod ermöglichen, aber tatsächlich hat er mir etwas anderes geschenkt. Das änderte aber nichts daran, dass ich zurück zum Frostfeuergrat wollte. Wenn die Sonne meines Lebens untergeht, dann soll es hier sein.“
Eine Weile schien jedes weitere Wort unnötig, und sie lagen schweigend nebeneinander. Ringsum ging die Feier weiter – Trommeln pochten, Gelächter erfüllte die Luft. Durotan fragte sich, wie sich Orgrims Kopf wohl am nächsten Morgen anfühlen würde, und er musste lächeln. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit war er zufrieden. Zweifelsohne hatte Draka viele aufregende Geschichten zu erzählen, und er wollte alles hören, was sie während der beiden Jahre abseits des Klans erlebt hatte.
Sein Lächeln verblasste. Da war eine Frage, die gestellt werden musste, so unangenehm sie auch war. Er zögerte sie hinaus, solange er konnte, genoss den einfachen Luxus, neben Draka zu liegen, ohne sie zu berühren, ohne auch nur mit ihr zu sprechen. Doch schlussendlich brauchte er eine Antwort.
„Draka“, sagte er. „Während deiner Reise, hast du da von einem … einem Hexenmeister gehört?“
Wie er befürchtet hatte, beendete Drakas abfälliges Schnauben den süßen Moment. „Pah!“ Sie drehte den Kopf weg und spuckte aus. „Gul’dan, der grünhäutige Sklavenhalter. Ja, ich habe von ihm gehört. Er sammelt die Orcs um sich, lockt sie an mit Geschichten von einem weit entfernen, perfekten, magischen Land. Ein Ort, an dem die Tiere darum kämpfen, zum Abendessen geschlachtet zu werden, die Früchte so oft von den Bäumen fallen, dass man Beulen kriegt, und die Vögel Most pissen.“
Durotan hielt sich den Bauch vor Lachen. Sie stimmte mit ein, und eine ganze Weile lagen sie da und grinsten einander an. Anschließend erzählte er ihr von Gul’dans Besuch. Draka lauschte aufmerksam seiner Schilderung des Hexenmeisters und seiner Sklavin. Als er schließlich zu Garads Tod durch die Hand der Rotläufer kam, stemmte sie sich auf die Ellenbogen hoch, ohne aber nur einen Moment die Augen von seinen zu lösen.
Er sprach noch lange weiter, erzählte ihr alles, was seit dem Beginn ihres Exils geschehen war. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Es fiel ihm so leicht, mit ihr zu reden, und er fragte sich nach dem Grund. Vieles von dem, was er ihr sagte, hatte er nicht einmal Orgrim anvertraut. Vielleicht lag es daran, dass sie aus dem Exil zurückgekehrt war; sie hatte all diese Dinge nicht miterlebt. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass sie während ihrer Reisen vieles gelernt hatte und ihm einen neuen Blickwinkel bieten konnte. Oder vielleicht war es einfach nur die friedliche Konzentration, die von ihr ausging, als würde sie ihm mit ihrem ganzen Wesen lauschen, nicht nur mit ihren Ohren.
Als er schließlich verstummte, ergriff sie das Wort.
„Rotläufer.“ Ihre Stimme war frostig wie ein Gletscher, während sie sprach. „Die habe ich auch gesehen.“
Jetzt war es Durotan, der sich auf die Ellbogen hochzog und sie anblickte. „Erzähl mir davon.“
„Sie nennen sich so, weil sie sich mit dem Blut ihrer Beute bemalen. Aber der Name passt nicht länger.“ Langsam schüttelte sie den Kopf mit den geflochtenen Zöpfen. „Sie sind keine Rotläufer mehr.“
„Wie meinst …“ Doch dann begriff er.
„Das Blut … Stammt es von Draenei?“
Sie nickte. „Und … von Orcs.“
10
Der erste Schnee kam nur neunundzwanzig Tage nach Draka.
Es war nicht viel, nur ein paar kristallene Flocken, die schmolzen, bevor sie den Boden berührten. Doch es hatte noch nie so früh geschneit, und Durotan war gleichermaßen wütend und besorgt.
Im Sommer hatten sich ein paar Orcs darüber beschwert, dass er so knauserig mit den Vorräten umging, aber jetzt verschwanden diese Klagen beinahe ebenso schnell wie die Schneeflocken. Resignation machte sich breit, aber der Klan wusste auch, dass er für den schnell näherrückenden Winter gewappnet war. Durotan war stolz auf seine Leute.
Drakas unerwartete Ankunft schenkte den Frostwölfen weiteren Mut. Sie erzählte Geschichten, die die jungen Orcs verzauberten – und auch ein paar, die gar nicht mehr so jung waren. Auf Durotans Bitten hin zeichnete sie Karten auf gegerbten Häuten, um festzuhalten, wo sie gewesen war und was es dort gab. Sie machte den Klan zudem mit einigen Techniken vertraut, die noch kein Frostwolf ausprobiert hatte: neue Arten, einen Bogen zu halten, damit man leichter zielen konnte, neue Methoden, Schwertgriffe zu umwickeln, damit sie besser in der Hand lagen. Doch wie Durotan erkannte, war ihr größter Beitrag, dass sie den anderen Hoffnung schenkte. Wenn eine Verbannte nach zwei Jahren im Exil zu den Frostwölfen zurückkehren konnte, lebend und sogar noch stärker als zuvor, dann konnten sie alle überleben.
Kurz nach dem ersten Schnee bat Durotan Geyah, Orgrim, Drek’Thar und Draka zu sich in die Häuptlingshütte. Die ersten drei waren für ihn zu engen Beratern geworden, und er spürte, dass auch Draka viel beisteuern konnte. Zunächst waren die anderen im Umgang mit dem Neuankömmling ein wenig steif und zurückhaltend gewesen, aber Stück für Stück begannen sie, sich zu entspannen.
„Ich habe den Frostwurztee vermisst“, gestand Draka, als Durotan ihr eine dampfende Tasse hinhielt. „Andere Kräuter sind auch nahrhaft, aber keines schmeckt so gut.“
Drek’Thar, der selbst eine Tasse zwischen seinen Händen hielt, neigte den Kopf in ihre Richtung. „Andere Kräuter?“, erkundigte er sich. „Nur Frostwurz und Kevakblätter können gefahrlos verzehrt werden.“