„Das dachte ich auch“, erwiderte Draka. „Aber ich habe gelernt, dass das ein Irrtum ist. Feuerwurz und Pfeilwurz sind ebenfalls essbar. Pfeilwurz hat mein Bein gerettet, als ich die Wurzel zerkaute und eine Paste machte, um den Stich einer roten Maka zu behandeln. Und Sternenblumen …“ Ihre Augen leuchteten. „Nun, falls du lange schlafen und interessante Träume haben möchtest, trink einfach eine Tasse davon.“
Geyah blickte sie erstaunt an und nahm umständlich Platz. „Sternenblumen bringen den Tod, keinen Schlaf. So wurde es uns – und dir – beigebracht, Draka. Warum hast du davon getrunken?“
„Ich wusste nicht, was es war, als man es mir anbot“, antwortete die junge Orc-Frau. „Der Klan der Donnerfürsten findet, dass sich damit der Geist beruhigen lässt.“
Langsam schüttelte Geyah den Kopf. „Dass du hier bist, um uns davon zu erzählen, beweist, dass sie nicht giftig sind, aber …“
„Ich bin sicher, unsere Vorfahren hatten Gründe, diese Lehren aufzustellen“, warf Durotan ein. „Vielleicht trank einer von ihnen eine zu starke Mischung und wachte nie wieder auf.“
„Das könnte äußerst hilfreich sein“, brummte Drek’Thar. „Alles, was diesen Klan heilen oder ernähren kann, ist ein Geschenk, Draka, Tochter von Kelkar, Sohn von Rhakish. Komm später zur Schamanenhütte und erzähl mir, was du sonst noch gelernt hast.“
Drakas Wangen röteten sich. Beinahe hätte Durotan gelacht. Draka, die überlebt hatte, was die meisten Orcs als Todesurteil betrachteten, die weithin durch das Land gezogen war, die einen ebenso fröhlichen wie derben Sinn für Humor hatte, die Orcs gesehen hatte, welche das Blut ihres eigenen Volkes als eine Art obszöne Verzierung trugen … und die jetzt errötete. Doch dann wurde ihm mit einem Mal der Grund klar.
Sanft legte er ihr die Hand auf den Arm. „Du bist nicht länger eine Verbannte, Draka. Du bist eine von uns. Das warst du immer.“
Sie streifte seine Hand mit einem Brummen ab und murmelte etwas, das er nicht verstehen konnte. Doch der Blick, den sie ihm zuwarf, war voller Dankbarkeit.
Später nutzte Durotan das gute Wetter, um eine Jagdgruppe zusammenzustellen. Er wollte sehen, wie Draka ihre neuen Techniken an lebender Beute demonstrierte, also lud er sie ein, sich der Gruppe anzuschließen. Umso überraschter war er, als sie ablehnte.
„Warum kommst du nicht mit?“, fragte er.
„Weil ich nicht möchte.“
„Wir brauchen deine Fähigkeiten, Draka. Du musst uns zeigen, was du kannst.“
„Ich habe euch hier im Dorf schon genug beigebracht“, entgegnete sie. „Deine Bogenschützen und Krieger lernen schnell.“
Sie ging davon, aber er folgte ihr. „Es ist wichtig für die Frostwölfe, dass du mit ihnen jagst.“
„Ihr habt mich zwei Jahre lang nicht gebraucht“, schnappte sie, ohne stehen zu bleiben.
Klanmitglieder marschierten nicht einfach fort, wenn ihr Häuptling mit ihnen sprach! Wütend packte Durotan sie am Arm, um sie zurückzuhalten. Draka versuchte sich loszureißen, die schwarzen Brauen zusammengezogen, das Kinn wild vorgereckt.
Die Hand eines jeden männlichen Orcs hätte an ihrem drahtigen Körper riesig gewirkt, und Durotans umso mehr. „Ich bin dein Häuptling“, grollte er. „Du wirst tun, was ich dir sage.“
Ihre Augen, so braun wie die Erde und so tief wie ihre Geheimnisse, brannten sich in die seinen. „So führst du deine Leute also? Vielleicht hätte ich doch nicht zurückkommen sollen.“
Durotan ließ sie los und trat zurück. „Nein. Ich führe meine Leute nicht so. Dass du nach Hause zurückgekehrt bist, freut mich mehr, als ich in Worte fassen kann.“
Er erwartete, dass sie wieder davonmarschieren würde, aber sie blieb stehen. Das ermutigte ihn – nun mit ruhiger Stimme – fortzufahren: „Du musst uns nicht begleiten, wenn du nicht möchtest. Aber ich verstehe es nicht. Es gibt so viel, was du uns lehren kannst, Draka. Warum möchtest du nicht mitkommen?“
Die Furchen auf ihrer Stirn wurden noch tiefer, und sie wandte sich ab. „Du weißt, dass ich als Kind schwächlich war. Niemand brachte mir bei, eine Waffe zu benutzen; niemand glaubte, dass ich lange genug überleben würde, um sie zu benutzen. Ich musste mir das alles selbst beibringen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Also habe ich es gelernt.“
„Das hast du. Und das ist beeindruckend, Draka.“ Sie drehte sich wieder zu ihm um, überrascht von der Ehrlichkeit und der Demut in seiner Erwiderung. „Zeige uns, was du gelernt hast. Ich für meinen Teil würde es gerne sehen.“
„Aber es gibt Dinge, die ich im Exil nicht gelernt habe“, sagte sie. „Dinge, die ich mir nie aneignen konnte. Ich kann jagen, Durotan. Aber … aber ich kann nicht zur Jagd reiten.“
Selbst, wenn sie ihm ins Gesicht geschlagen hätte, hätte er nicht verblüffter sein können. Als sie noch jung gewesen waren, hatte er ihr nie allzu viel Beachtung geschenkt; er war der Sohn eines Häuptlings, und wie die meisten Kinder hatte er sich auf seine eigenen Wünsche und Nöte konzentriert – oder zumindest, was er damals für Nöte gehalten hatte. Er war davon ausgegangen, dass alle Frostwölfe das Reiten erlernten, selbst jene, die ins Exil geschickt wurden. Doch Draka war so zerbrechlich gewesen, und offensichtlich hatten selbst ihre Eltern geglaubt, dass sie fortgeschickt und den Tod finden würde. Warum also einer Toten das Reiten beibringen?
„Doch“, sagte er sanft. „Du kannst. Heute wirst du mit mir auf Scharfzahns Rücken reiten. Das ist eine große Ehre. Du wirst hinter mir sitzen und mir erklären, was ich tun, wie ich meine Waffe halten muss. Ich werde deine Instruktionen befolgen, und alle werden sehen, dass du mich unterrichtest. Später, wenn niemand dabei ist, der Geschichten darüber erzählen könnte, werde ich dir beibringen, ganz ohne Hilfe auf Scharfzahn zu reiten, oder auf dem Wolf, der dich als seine Meisterin wählt.“
Drakas Gesicht, ihr wunderhübsches, kantiges, scharfzähniges Gesicht, war nicht länger verschlossen. Offen und erstaunt starrte sie ihn an, dann beugte sie den Kopf und sank auf ein Knie.
„Du ehrst mich, Häuptling“, sagte sie mit belegter Stimme.
Durotan beugte sich vor und zog sie wieder auf die Beine. „Nein, Draka. Ich – wir alle – sind es, die geehrt werden. Komm jetzt.“ Mit einem Grinsen hielt er ihr die Hand hin. „Zeig uns, wie man richtig jagt.“
Zögerlich streckte sie ihre Hand aus. Sie war schwielig und stark, die Nägel eingerissen von harter Arbeit. Dennoch verschwand sie völlig, als er seine kräftigen Finger darum schloss, so, als würde er einen wertvollen Schatz in seiner Handfläche halten.
Sie kehrten mit sechs Talbuks zurück, und jeder im Klan konnte sich an diesem Abend den Bauch vollschlagen.
Trotz des frühen Schneefalls, der die Orcs aus mehr als nur einem Grund frösteln ließ, meinte es der Herbst gut mit ihnen. Die Bäume schenkten ihnen viele Nüsse, und die Früchte wurden getrocknet und mit großer Sorgfalt eingelegt – eine Vorgehensweise, deren Nutzen die Frostwölfe im Vorjahr gelernt hatten. Es gab sogar einen Nachsommer, den Durotan ausnutzte, um allein mit Draka auszureiten.
Sie hatte nun ihren eigenen Wolf. Nur ein paar Tage nach der Geburt ließ der Klan seine Kinder mit dem Rudel spielen, damit sie eine Beziehung zu einem Welpen aufbauten. Dieser erste, große Freund begleitete einen jungen Frostwolf oft bis zu fünfzehn Sommer, und sein Tod war stets ein Anlass großer Trauer – oft war es das erste Mal, dass ein Orc Bekanntschaft mit dem Tod machte. Dieses Muster wiederholte sich, bis der Frostwolf starb und sein Reittier allein zurückblieb, genauso wie Eis nach Garads Ermordung. Der Wolf trauerte daraufhin, bis er sich einen neuen Meister erwählte, aber manchmal knüpften die Tiere auch kein neues Band und ließen sich den Rest ihres Lebens nicht mehr reiten.
Sie alle waren überrascht gewesen, und Draka ganz besonders, als Eis sich eines Abends vom Rudel gelöst und neben die heimgekehrte Orc-Frau ans Feuer gelegt hatte. So kühn und stark Draka auch sein mochte, es hatte doch die unschuldige Verwunderung eines Kindes aus ihren Augen gesprochen, als sie den Wolf anstarrte. Sie hatte nicht fassen können, was ihre Augen ihr zeigten.