„Äh … hat er mich … erwählt?“, fragte sie, und bei dem letzten Wort zitterte ihre Stimme. Nachdem Durotan ihr versichert hatte, dass Eis sie in der Tat gewählt hatte, schlang sie die Arme um den Wolf seines Vaters, und er sah Tränen der Freude in ihren Augen glänzen. Zunächst war er besorgt gewesen, da er Eis als mächtiges und stures Tier kannte. Doch er schien Drakas Unsicherheit zu spüren und ging so behutsam mit der einstigen Verbannten um wie mit einem Welpen.
Orgrim bedrängte ihn gnadenlos. „Sie wäre eine würdige Gefährtin. Selbst der Wolf deines Vaters sieht das! Ihr würdet starke Kinder hervorbringen. Ich meine, sie ist stark und hübsch.“ Und dann schob er nach: „Und klüger als du.“
„Alles, was du sagst, ist wahr, mein Freund“, erwiderte Durotan. „Sogar dieser letzte Punkt.“
„Gefällt sie dir?“
„Mehr, als ich in Worte fassen kann. Aber ich glaube nicht, dass jetzt die richtige Zeit ist, sie zu fragen. Nicht in der gegenwärtigen Situation.“ Nicht, wo der Winter vor der Tür steht.
Verärgert brummte Orgrim: „Wenn du so dumm bist, nicht dankbar anzunehmen, was direkt vor deiner Nase sitzt, dann hat dein Schädel vermutlich ein paar Schläge zu viel abbekommen. Wärst du nicht mein Häuptling, würde ich dir jetzt gleich noch eine verpassen.“
„Versuch es doch“, forderte Durotan ihn heraus. Und zum ersten Mal, seit die Welt so hart und unerbittlich geworden war, begannen er und sein Freund eine Rauferei wie in Kindertagen, begleitet von vielen blauen Flecken und noch mehr Gelächter.
Der Winter kam, verlässlich wie der Tod, und er war grausam. Obwohl es sich niemand hatte vorstellen können, war Wild dieses Jahr noch seltener als im vorigen. Die Jagdgruppen mussten weiter und weiter reiten, um Beute zu finden, und manchmal waren sie mehrere Tage unterwegs. Kurg’nal nahm seinen Häuptling zur Seite, als er nach einer solchen Jagd mit leeren Händen zurückkehrte.
„Wir haben Talbuks gesehen“, sagte er unumwunden. „Aber wir haben sie nicht verfolgt.“
„Was?“ Durotan bemühte sich um einen ruhigen Ton. Etwas an Kurg’nals grimmigem, zerfurchtem Gesicht sagte ihm, dass der Klan besser nicht hörte, was der Jäger zu berichten hatte. Mit gedämpfter Stimme fragte er: „Warum nicht?“
„Sie waren krank“, erklärte Kurg’nal. „Auf eine Weise, wie ich es noch nie gesehen habe. Sie sahen aus, als wären sie tot, aber sie bewegten sich noch. An vielen Stellen war ihnen das Fell ausgefallen, und ihre Haut … war grün.“
Durotan schauderte, und das hatte nichts mit der kalten Luft zu tun. „Vielleicht sind die einzigen Pflanzen, die sie noch finden, giftig“, mutmaßte er. „Manchmal verfärbt sich dadurch die Haut vor dem Tod.“
„Auch zu Grün?“, fragte Kurg’nal zweifelnd.
„Mein Vater erzählte mir einmal von einem Treffen mit einem Orc, der beinahe so blau war wie ein Draenei. Er meinte, seine Haut habe sich verfärbt, als der Wasservorrat seines Klans verseucht wurde. Wenn so etwas die Haut blau machen kann, warum dann nicht auch grün?“
Kurg’nal nickte erleichtert. „Ja, vermutlich wird es so sein. Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen. Es ist gut, dass dein Vater dir von solchen Dingen erzählt hat.“
„Das finde ich auch“, erwiderte Durotan. „Aber behalte diese Sache bitte trotzdem für dich. Wir haben schon genug Probleme, wenn wir wach sind. Da müssen wir uns nicht auch noch in unseren Träumen Sorgen machen.“
Eines Abends versammelte sich der Klan um das Feuer und lauschte Gurlak, dem Frostwolf mit der lautesten Stimme, als er ein Lok’vadnod anstimmte. Das Lachen und der Jubel näherkommender Orcs vermischten sich mit seinem Gesang; da wie üblich eine Gruppe auf Patrouillengang war, wusste Durotan, dass es sich um die Rufe der zurückkehrenden Jäger handelte. Sämtliche Gesichter leuchteten auf, als sie die Stimmen hörten – ihr Jubel bedeutete, dass sie Beute erlegt hatten, und es war inzwischen zwölf Tage her, seit irgendjemand im Dorf etwas anderes gegessen hatte als getrocknete Früchte und gepökelten Fisch.
„Häuptling!“, rief Nokrar, als er, noch immer auf seinem Wolf sitzend, näher kam. Das Feuerlicht spiegelte sich ebenso auf den Ringen in seiner Nase und seinen spitzen Ohren wie auf seinem breiten Grinsen. „Wir haben gute Neuigkeiten!“
„Eure sichere Rückkehr an sich ist schon eine gute Neuigkeit, aber ich nehme mal an, ihr kommt nicht mit leeren Händen zurück.“
„Wir bringen euch drei Talbuks … und ein Zeichen der Geister!“, verkündete Nokrar, während er vom Rücken seines Wolfes rutschte. Drek’Thar drehte den Kopf in Richtung der Neuankömmlinge, als er diese Worte hörte.
„Das sollte wohl eher ich beurteilen, Nokrar“, sagte er. „Aber ich bin ebenso neugierig wie jeder andere Frostwolf. Was ist das für ein angebliches Zeichen?“
„Wir sind der Spur der Talbuk-Herde bis zum Fuß des Altvaterberges gefolgt“, berichtete der Jäger. „Dort haben wir einen See gefunden, der zuvor noch nicht da war.“
„Er ist von Gras umgeben!“ Shaksa, Nokrars Tochter, war so aufgeregt, dass sie ihren Vater unterbrach. Dies war erst ihre dritte Jagd gewesen, und sie entwickelte sich schnell zu einer der besten Fährtenleserinnen des Klans. Doch ebenso scharf wie ihr Auge war leider auch ihre Zunge, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. „Häuptling, das Wasser ist heiß!“
Aufgeregtes Gemurmel wurde laut. „Das muss doch ein Segen der Geister sein, oder, Drek’Thar?“, drängte Nokrar. „Dass wir inmitten des härtesten Winters, den wir je erlebt haben, auf eine solche Oase stoßen?“
„Ich habe von Quellen gehört, aus denen heißes Wasser sprudelt, aber noch nie von einer, die so plötzlich erschien“, sagte Durotan.
„Ich auch nicht, und dabei lebe ich schon lange und habe den alten Geschichten genau gelauscht“, brummte Drek’Thar. Er wirkte vorsichtig optimistisch. „Es ist seltsam, dass der Geist des Feuers nicht zu mir kam, aber andererseits ist es auch nicht so, als sei er dazu verpflichtet. Weder er noch die anderen Geister müssen mich über alles informieren. Ich glaube wirklich, dass dies ein gutes Zeichen ist. Wir wissen nun von einem Ort, an dem all unsere Beute zusammenkommen wird, um zu fressen. Das wiederum bedeutet, dass auch wir zu essen haben werden.“
„Und wir können baden!“, fügte Nokrar an. „Es ist kein Vergleich zum kalten See im Sommer. Häuptling, du musst mitkommen und dir dieses Geschenk der Geister mit eigenen Augen ansehen!“
Am nächsten Tag ritt der Durotan gemeinsam mit Orgrim, Geyah, Draka und einigen anderen zum Fuß des Altvaterberges, und als sie ihr Ziel erreichten, weiteten sich die Augen des Häuptlings. Es war genau so, wie Nokrar und Shaksa es beschrieben hatten: Eine kleine Quelle, die aller Logik nach zugefroren sein müsste, blubberte fröhlich vor sich hin und stieß heißen Dampf aus. Umgeben war sie von üppigem Grün, das vor dem Hintergrund des tiefen, weißen Schnees einen umso verblüffenderen Kontrast darstellte. Als Durotan in das einladende Nass stieg, war das beinahe kochend heiße Wasser nur im ersten Moment abschreckend; danach fühlte es sich herrlich entspannend an. Jetzt gab es auch für ihn keinen Zweifel mehr daran, dass der Geist des Feuers ihnen gewogen war.
11
In seinem Traum konnte Drek’Thar sehen.
Und er sah die heiße Quelle im Schatten des Altvaterberges. Alle Arten von Tieren grasten friedlich auf der grünen Wiese, vom Schneehasen bis hin zum Grollhuf. Wie immer, wenn er zu dem mächtigen Gipfel hochblickte, konnte Drek’Thar das unvorstellbar alte Antlitz des Altvaterberges sehen. Bislang war seine Miene stets stoisch und wohlwollend gewesen; abwesend, aber gütig.
Doch jetzt hatte sich das Gesicht des Berges zu einem geräuschlosen Schrei verzerrt. Während Drek’Thar noch voller Grauen zu ihm hochstarrte, sprossen plötzlich hässliche, schwarze Wurzeln aus seinen Füßen. Sie ketteten ihn an die Erde, und er sah, wie sich eine Träne im Auge des Altvaterberges formte. Nur war sie nicht klar, so wie Wasser. Stattdessen war es ein riesiger, roter Tropfen, der über das steinerne Gesicht rann. Dabei wurde er beständig größer, bis er sich zu einem wahren Strom ausweitete, einem Fluss aus Blut.