Ein langer, gequälter Schrei erfüllte die kalte Nachtluft, erst tief, dann schriller werdend und dann wieder tiefer. Durotan versteifte sich, als er den Laut hörte. Was ging da vor sich? War dies der Schmerzensschrei des Altvaterberges, von dem Drek’Thar gesprochen hatte? Doch schnell wurde klar, dass dieses Geheul einen deutlich vertrauteren, wenn auch nicht weniger alarmierenden Ursprung hatte.
Jeder Wolf im Dorf stimmte in eine unheimliche Harmonie des Grauens ein.
Einen Herzschlag später spürte Durotan unvermittelt eine Hitzewoge auf dem Gesicht, obwohl er mit dem Rücken zum Feuer stand. Er hatte keine Ahnung, was gerade geschah, aber er riss instinktiv die Hände hoch, um sich dagegen zu schützen. Die schier unerträgliche Hitzewelle stammte aus dem Süden, und als er den Kopf drehte und die Augen einen Spaltbreit öffnete …
Flüssiges Feuer, hellrot gleißend wie die Glut in der Esse eines Waffenschmiedes, stob vom höchsten Gipfel des Altvaterberges in die Luft. Die flammende Säule erhob sich hoch in den Himmel, warf ihren orangefarbenen Schein auf die Kanten und Klüfte des Berges, dann ergoss sie sich über die Hänge und zeichnete als mäandernder Strom geschmolzenen Steins die Umrisse des Berges nach.
Ein Fluss aus Blut.
Einen Moment später explodierte die Nacht.
Das Geheul der Wölfe wurde von einem ohrenbetäubenden Donner übertönt, bei dem die Orcs schreiend die Hände über die Ohren pressten, während viele von ihnen auf die Knie fielen. Durotans Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, und auch er bedeckte seine gepeinigten Ohren.
Glühende Kugeln aus geschmolzenem Gestein prasselten ringsum auf den Boden. Durotan hörte verängstigte, qualvolle Schreie und roch verbranntes Fleisch. Er atmete die erhitzte Luft ein und wollte gerade einen Befehl brüllen, als sich eine andere Stimme erhob, stark, ruhig und beherrscht.
„Geist der Luft! Erhöre unseren Hilferuf!“
Es war Drek’Thar. Durotan wandte sich von dem hypnotischen, grausigen Anblick des blutenden Berges ab und sah die Schamanen, die in einer Reihe nebeneinanderstanden, die Arme ausgebreitet, die Rücken gerade, ihre Stäbe zum Himmel emporgereckt.
Die Nacht war windstill gewesen, aber jetzt erhob sich eine Böe aus dem Norden. Sie war kalt wie der Tod und frostig feucht, und die Frostwölfe erzitterten heftig, als sie über sie hinwegfegte. Durotan wandte sich wieder dem explodierenden Berg zu, der weiter oranges Feuer blutete, und er sah dichten, grauen Rauch, der sich über dem glutspeihenden Gipfel ausbreitete. Doch dann drängte die unsichtbare Woge kalter, feuchter Luft diesen Qualm vor seinen Augen zurück. Unförmige Gesteinsklumpen schlugen weiter ringsum auf dem Boden ein, aber auch, wenn sie noch rauchten, waren sie inzwischen größtenteils abgekühlt.
„Geist des Wassers! Leihe uns deine Tränen!“
Bauchige, weiße Flocken füllten nun die Luft, und die Schwingen des Windes trugen sie auf den brennenden Berg zu. Durotans Herz schwoll vor Dankbarkeit an, während die Geister zusammenarbeiteten, um die Frostwölfe von ihrem nunmehr bedrohlichen Bruder Feuer abzuschirmen. Dennoch wusste er, dass dies nur eine kurze Gnadenfrist war. Bereits jetzt schlug das Feuer zurück, und sein flammendes Blut strömte unaufhaltsam dem Dorf entgegen.
Sie hatten keine Zeit für einen geordneten, ruhigen Abzug. Durotan lief los, seine Füße endlich befreit von den Wurzeln der Angst, die sie gefesselt hatten. Brennend heiße Luft versengte seine Lungen.
„Orgrim!“, schrie er und ließ seinen Blick über das verängstigte Chaos ringsum schweifen. „Geyah! Draka!“
„Hier, Durotan!“ Orgrims Stimme zitterte unmerklich, aber er schob sich entschlossen auf seinen Häuptling zu. „Wie lauten deine Befehle?“
„Finde die Krieger und Jäger. Jeder soll sich einen Wolf, eine Waffe und jemanden aus dem Dorf nehmen, der mit ihm reiten kann. Du wirst sie anführen. Zieht nach Norden, sucht diese Zuflucht, von der Draka uns erzählte. Du hast die Karte gesehen. Denkst du, du findest den Ort?“
„Aber …“
Durotan packte den anderen Orc am Arm und drehte ihn so, dass sein Gesicht dem Altvaterberg zugewandt war. „Der Feuerfluss kommt schnell näher. Die Schamanen werden ihn nicht lange bremsen können. Also lass mich dich noch einmal fragen: Erinnerst du dich, wo diese Zuflucht liegt?“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Gut. Eine Waffe für jeden. Geh!“
Orgrim nickte knapp und bahnte sich schubsend und stoßend einen Weg durch die Menge, während er nach den Kriegern rief. Hustend drehte Durotan sich zu Geyah und Draka herum. Der Windwall der Schamanen hielt den Großteil des Rauchs und der Asche zurück, und der Schnee kühlte die Luft, die die Orcs einatmeten, aber es stimmte, was er Orgrim gesagt hatte: Bereits jetzt begann die Abwehr der Schamanen, schwächer zu werden.
„Mutter … suche Jauler, dann geh zu den Schamanen. Du musst die Schriftrollen und Heilkräuter holen, während sie das Feuer zurückhalten. Du bist unsere Wissenshüterin, du weißt, was davon am wichtigsten und wertvollsten ist. Aber“, und an dieser Stelle drückte er ihre Schulter, „beeil dich. Nimm nur mit, was du mühelos tragen kannst. Hör auf Drek’Thar. Wenn er den Befehl zum Rückzug gibt, dann lauf. Und falls er sich weigert, selbst zu fliehen – zwinge ihn!“
Sie zuckte bei diesen Worten zusammen, aber sie nickte. Der Gedanke, die Chroniken des Klans zu verlieren, brach ihr das Herz, das war Durotan klar. Doch sie war ein Frostwolf, und sie wusste, dass das Überleben des Klans wichtiger war als alles andere.
Ein weiteres, lautes Krachen ertönte. Durotan wirbelte herum und sah, wie ein gewaltiger Teil vom Angesicht des Altvaterberges einfach nach unten rutschte, so sauber abgetrennt, als hätte Spalter ihn abgehackt. Eine neue Woge des Feuers stob hervor, wie Blut, das aus einer Wunde spritzte.
Eine Hand legte sich auf seinen Arm. Er wandte sich Draka zu, und ihre Blicke verschmolzen miteinander. Eine Hitze, die nichts mit dem Feuerblut des Berges zu tun hatte, breitete sich zwischen ihnen aus, aber jeder Augenblick zählte. „Treib die Wölfe zusammen und geh von Hütte zu Hütte. Jeder Wolf soll zwei Personen tragen, mehr, falls du Kinder findest. Sorg dafür, dass niemand zurückbleibt. Dann …“
„Nach Norden zur Zuflucht“, unterbrach sie ihn, ihre Worte hastig und drängend. Er stellte fest, dass sie noch immer seinen Arm hielt, und einen Herzschlag lang bedeckte er ihre Hand mit der seinen. Anschließend nickte er in Richtung der Hütten. Ohne ein weiteres Wort rannte Draka los, so schnell, wie ein Pfeil von der Sehne surrt.
Einst war der Norden selbst für die Frostwölfe der Rand der Welt gewesen. Es war der Sitz der Geister; ein Ort, an dem das Leben unerbittlich hart, bisweilen sogar unmöglich war. Die Südlande hingegen waren stets üppig gewesen, der fruchtbarste Teil von Draenor, dessen Bewohner Überfluss und Bequemlichkeit genossen, wie die Orcs des Nordens sie nie kennen würden. Doch jetzt war es der Süden, der krank war, die südlichen Berge, die von Feuer geplagt wurden, und der Norden barg die einzige Hoffnung auf eine Zukunft.
Durotan sog erneut die verbrannte Luft ein. Seine versengten Lungen schmerzten fürchterlich, aber es war notwendig. „Frostwölfe!“, rief er. „Verzweifelt nicht! Unsere tapferen Schamanen werden das Feuerblut des Altvaterberges zurückhalten, damit wir unsere Familien zusammenrufen und nach Norden ziehen können. Orgrim und Draka werden mit Wölfen zu euch kommen und euch in Sicherheit bringen! Sie sprechen mit meiner Stimme. Also tut, was sie sagen, dann werden wir alle diese Nacht überleben!“
Als wollte der Geist des Feuers ihn verspotten, ging ein weiterer Hagel kopfgroßer Gesteinsbrocken über dem Dorf nieder. Einige konnten von den Zaubern der Schamanen abgelenkt werden, aber andere bohrten sich in den Boden und in Hütten. Erneut stachen Schreckensschreie durch die ohnehin schon zerfetzte Ruhe der Nacht.