„Hört mir zu!“, rief Durotan, obwohl sich seine Kehle anfühlte, als hätte er selbst Feuerblut getrunken. „Ihr seid keine Talbuks! Ihr seid keine Beutetiere, die im Angesicht der Gefahr auseinanderstieben und in Panik geraten! Hört auf Draka, auf Orgrim und auf die Schamanen. Bewahrt Ruhe. Geht nach Norden! Ihr seid Frostwölfe! Erinnert euch daran, was das bedeutet! Das ist jetzt wichtiger denn je.“
„Frostwölfe!“, erklang eine einsame Stimme irgendwo in der Menge. „Frostwölfe!“, echote eine andere, und dann stimmten immer mehr Orcs in den Kriegsschrei ein. Er wurde lauter, stemmte sich dem beständigen, grausigen Brüllen des Berges entgegen, während dieser vom Feuer verschlungen wurde. Es war keiner der rituellen Gesänge, wie die Schamanen sie anstimmten, aber dennoch wohnte ihm eine ganz eigene Magie und Macht inne. Die Menge stand nicht länger dichtgedrängt wie eine Grollhuf-Herde. Sie geriet in Bewegung, aber nicht in panischer Flucht, sondern mit schnellen, entschlossenen Schritten.
Durotan blieb noch ein paar Herzschläge stehen und beobachtete, wie Draka einer kleinen verängstigten Gruppe Mut zusprach und ihnen die ruhigsten der Wölfe zum Reiten gab. Von anderer Stelle hörte er die Schlachtrufe der Krieger, die Orgrim, seinem Befehl entsprechend, zusammengerufen hatte. Anschließend eilte der Häuptling in seine Hütte, um Spalter, Donnerschlag und die Karte zu holen, die Draka gezeichnet hatte. Bevor er Scharfzahn rief, tat er dasselbe, was er Draka aufgetragen hatte: Er ging noch einmal von Hütte zu Hütte.
Sein Herz schmerzte, als er verschüttete Getränke, zerwühlte Schlaffelle und fallen gelassene Holzspielzeuge sah. Da war so vieles, was die Frostwölfe zurücklassen mussten. Der Steinerne Sitz, die Wiese, auf der sein Volk seit Urzeiten zur Sommersonnenwende tanzte; schon bald würde das alles unter dem Strom des Feuerbluts begraben werden. Doch der Klan würde überleben.
So, wie er es schon immer getan hatte. So, wie er es immer tun würde.
12
Durotan verließ das todgeweihte Dorf als Erster, an der Spitze der größten Welle seines Klans. Er hatte Orgrim und seine Krieger angewiesen, kurz nach ihnen aufzubrechen, um ihnen falls nötig Rückendeckung zu geben. Draka und Geyah würden ihnen so bald wie möglich mit den Nachzüglern und den Schamanen folgen. Die Wölfe mussten nicht angetrieben werden, um so schnell zu rennen, wie sie nur konnten, während sie Durotans Gruppe nach Norden trugen. Dennoch verfolgte sie der Rauch; er brannte in ihren Augen, sperrte den Nachthimmel aus, verhüllte selbst die Baumwipfel. Unter dieser würgenden, grauen Decke war es den Orcs unmöglich, sich auf ihrer Flucht nach den Sternen zu richten.
Doch zum Glück brauchte Durotan Mond und Sterne nicht; er hatte die Karte. Sie zeigte ihm den Weg zu dem Ort, den Draka die Zuflucht genannt hatte, hoch im Norden. Bei ihrem gegenwärtigen Tempo sollten sie ihn in einigen Stunden erreichen können. Falls es dort Wasser gab, gab es auch Tiere und Erde, die bewirtschaftet werden konnte. Zudem hatte Draka ihm versichert, dass sie dort vor den Elementen geschützt wären: Im Laufe von Äonen waren gewaltige Felsen und flache Gesteinsbrocken an diesen Ort gerollt und hatten dort natürliche Kammern geformt. Die Tatsache, dass sich diese Formationen im Zentrum eines weiten, offenen Gebiets befanden, bedeutete außerdem, dass sie sowohl Beute als auch herannahende Feinde schon aus großer Ferne erkennen könnten. Zu guter Letzt gab es dort Bäume, was hieß, dass sie Holz für Feuer haben würden.
Draka hatte auf der Karte Orientierungspunkte eingezeichnet: hier ein Baum, der von einem Blitz gespalten worden war, dort ein ausgetrocknetes Flussbett. Als sie diese Wegpunkte einen nach dem anderen passierten, schlug Durotans Herz zum ersten Mal, seit er das Geheul der Wölfe gehört hatte, wieder ein wenig leichter.
Zu guter Letzt erreichten sie die Zuflucht, und tatsächlich fanden sie dort Dutzende dicht beisammenstehende Felsen vor, die Schutz versprachen. Durotan schickte eine kleine Gruppe los, um Feuerholz zu sammeln, und wies sie an, falls nötig auch Äste abzuschlagen; er würde Drek’Thar bitten, sich beim Geist der Erde für diesen Verstoß zu entschuldigen. Seine Lippen verzogen sich, als ihm die Ironie ihrer Lage bewusst wurde: Ein Strom aus Feuer hatte ihr Dorf zerstört und sie zur Flucht gezwungen, doch ein kleines, kontrolliertes Feuer hier bedeutete Leben.
Die Furcht und die zermürbende Reise hatten viele Mitglieder des Klans erschöpft, und Durotan erklärte, dass sie zumindest versuchen sollten zu schlafen. Er und die anderen, die zu aufgewühlt waren, kümmerten sich um das Feuer und hielten Wache.
Nur kurz nachdem das Feuer entzündet worden war, traf Orgrim mit seinen Kriegern ein. Alle hatten überlebt, und trotz der eindeutigen Befehle ihres Häuptlings hatten sie ihre Wölfe mit mehr – in einigen Fällen sogar mit deutlich mehr – als nur einer Waffe beladen. Er tadelte sie für ihren Ungehorsam, aber im Stillen war er froh. So, wie die Dinge sich überschlagen hatten, war einfach keine Zeit gewesen, mehr als sich selbst in Sicherheit zu bringen, aber jetzt, wo die Gefahr, oder zumindest die unmittelbare Bedrohung durch das Feuer, vorüber war, würde jede Waffe zählen.
Mehrere Stunden verstrichen, bis endlich auch Geyah und Draka ankamen. Durotans Herz machte einen Satz, als er sie sah – und die Gruppe, die sie anführten. Geyah rutschte von Jaulers Rücken, und kurz sah es aus, als würden ihre Beine nachgeben. Doch dann trat sie sicher auf ihren Sohn zu, und er schloss sie herzlich in die Arme.
„Ich bin froh, dass du hier bist, Mutter“ sagte er, anschließend sah er sich unter den Schamanen um, die so müde waren, dass sie kaum von ihren Wölfen steigen konnten. „Aber … wo sind Drokul und Relkarg?“
„Sie werden nicht kommen“, erklärte Geyah leise. „Sie sind zurückgeblieben, um den Feuerfluss bis zum letzten Moment zurückzuhalten. Die anderen wollten ebenfalls bleiben. Palkar und ich mussten Drek’Thar förmlich zwingen, mit uns zu kommen.“
Zu glauben, dass der Klan ganz ohne Verluste davonkommen könnte, war natürlich töricht gewesen, dennoch hatte Durotan diese Hoffnung gehegt. „Man wird sich ihrer Opfer in einem Lok’vadnod erinnern. Was Drek’Thar und die anderen Schamanen angeht, die noch bei uns sind: Wir werden sie jetzt mehr brauchen denn je. Was ist mit den Heilmitteln? Und mit den Schriftrollen?“
Die Sorgenfalten gruben sich noch tiefer in das Gesicht seiner Mutter. „Das Meiste ist verloren“, antwortete sie. „Ich konnte nur einen kleinen Teil mitbringen.“ Die Schriftrollen waren uralt und unersetzbar. Die Schamanen hatten ihr Leben geopfert, um ihre Klanbrüder und -schwestern zu retten, und zweifelsohne wäre auch Geyah gestorben, hätte sie versucht, alle Schriften zu retten. Niemand hätte ihren Verlust verhindern können.
Jemand rief nach ihr, und sie drehte sich um. Durotan ließ sie davongehen und suchte die Menge der Neuankömmlinge mit den Augen nach Draka ab. Erst, als sich ihre Blicke trafen, erkannte er, wie groß seine Sorge um sie gewesen war.
Sie hatte den Arm um die schluchzende Shaksa gelegt, aber als sie Durotan sah, wisperte sie dem Mädchen etwas zu, umarmte es, und bahnte sich dann einen Weg zu ihrem Häuptling. Ihr Gesicht war grimmig, und sie kam sofort zum Punkt.
„Einige unserer Leute haben es nicht geschafft“, erklärte sie.
„Geyah hat mir von den Schamanen erzählt“, begann er, aber Draka schüttelte den Kopf, und er verstummte.
„Wir haben Kelgrim, Pagar und all ihre Kinder verloren.“
Durotan fühlte sich, als hätte ihm ein Grollhuf in den Bauch getreten. „Was? Die ganze Familie? Wie …“
„Ich führte die Gruppe“, sagte sie, und Selbsthass schwang in ihren Worten mit. „Ich bin dafür verantwortlich. Ich habe erst gerade eben durch Shaksa davon erfahren. Die Familie war ganz hinten in der Gruppe. Shaksa meinte, ihr Jüngster, Zagu, hätte ein Spielzeug vergessen.“ Drakas Stimme zitterte leicht. „Er kletterte von ihrem Wolf und rannte zurück, um es zu holen. Seine Familie folgte ihm. Sie versprachen Shaksa, dass sie nachkommen würden.“ Ein schmerzerfüllter Ausdruck huschte über ihre Züge. „Ich wusste nicht einmal, dass sie fort waren.“