Durotan legte ihr die Hand auf die Schulter. „Du hast nur zwei Augen, Draka. Wie hättest du so etwas ahnen können, wenn niemand nach vorne kam, um es dir zu sagen? Was Pagar und Kelgrim angeht … Sie standen vor einer unmöglichen Entscheidung. Du hättest sie nicht zurückhalten können, Draka, selbst, wenn du gewusst hättest, dass Zagu zurückgerannt ist.“
Er fühlte mit ihr. Rein logisch betrachtet hätten die Eltern weiterziehen sollen; so hätten sie zwar ein Kind im Stich gelassen, aber die anderen gerettet. Doch während er Draka ansah, stellte er sich vor, wie er wohl empfunden hätte, hätten er und diese bemerkenswerte Orc-Frau einen Sohn gehabt. Hätte er in einer solchen Situation die rationale Entscheidung treffen können? Oder hätte auch er alles aufs Spiel gesetzt, um sein Kind zu retten? Ein kleines, einzigartiges Leben, geboren aus Liebe und wahrer Seelenverwandtschaft?
Seine Emotionen waren ebenso eindeutig wie unangenehm. Trotz seiner brodelnden Gefühle bemühte er sich um einen ruhigen Tonfall. „Wir sind Frostwölfe. Anderen Orcs wäre eine solche Entscheidung vielleicht leichtgefallen, aber nicht uns. Und gerade jetzt sind Kinder wichtiger als je zuvor. Hättest du einfach so weiterreiten können, Draka?“
Er wusste selbst nicht, warum, aber es war ihm wichtig, die Antwort auf diese Frage zu hören. Sie wandte kurz den Blick ab, und er konnte sehen, wie sie schluckte, dann richtete sich der Blick ihrer warmen, braunen Augen wieder auf ihn.
„Nein“, erklärte sie leise. „Wäre es mein Kind gewesen, hätte ich alles in meiner Macht Stehende getan, um es zu retten. Ganz gleich, wie die Konsequenzen ausgesehen hätten. Du kannst das nicht wissen, Durotan, aber das ist etwas, was wir Frostwölfe mit den Draenei gemein haben. Sie lieben ihre Kinder und würden für sie sterben.“
Einen kurzen Moment lang erschien der Vergleich Durotan seltsam, doch dann erinnerte er sich – die Draenei waren es gewesen, die Draka an diesen Ort gebracht hatten. Zum wiederholten Male fragte er sich, was diese starke Frau wohl alles erlebt hatte.
Er nahm die Hand von ihrer Schulter und trat zurück. „Ruh dich aus, Draka. Du hast es dir verdient.“
Sie lächelte traurig. „Ich glaube, es wird noch einige Zeit vergehen, bevor ich schlafen kann. Und du siehst aus, als würde es dir ähnlich gehen.“
Der Morgen nach dem Exodus vom Frostfeuergrat brach kalt und grau an. Noch immer wehten Rauchschwaden aus dem Süden heran, aber auch, wenn die Luft nicht wirklich sauber war, versengte man sich doch zumindest nicht die Lungen, wenn man einatmete. Das Wenige an Wasser und Nahrung, das die Frostwölfe mitgenommen hatten – eine Tasche mit Nüssen hier, ein Wasserschlauch da –, war während der Nacht verzehrt worden. Durotan beschloss, den nahen See aufzusuchen, und Draka bat darum, ihn begleiten zu dürfen.
Sie hatte diesen Ort eine Zuflucht genannt, doch als sie kurz darauf am Ufer des Gewässers standen, sah Durotan, dass dieser Name nicht länger zutraf. Die Bäume und die Felsen waren noch immer hier und boten Schutz vor den Elementen und den Angriffen wilder Bestien oder Feinde, aber der See war von einer Schicht feiner, grauer Asche bedeckt. Die aufgequollenen, abscheulichen Kadaver von Tieren, die leichtsinnig genug gewesen waren, von seinem vergifteten Wasser zu trinken, lagen verrottend und halb gefroren am Ufer. Es war Winter, aber das Gras und die Bäume in der Nähe waren augenscheinlich schon vor Monaten abgestorben. Durotan konnte nirgends Exkremente entdecken, die auf die Gegenwart von Wild in der Umgebung hingedeutet hätten.
Der Morgen warf seinen kalten, grauen Schein auf diese Szene der Verzweiflung, während die beiden Frostwölfe grimmig auf den toten See hinausblickten – einen See, der eigentlich das Versprechen von Leben bergen sollte.
„Vergib mir, mein Häuptling“, sagte Draka schließlich. „Ich habe dich an einen sterbenden Ort geführt.“
„Andernfalls wären wir blind davongeritten“, beruhigte Durotan sie. „Hier haben wir zumindest Schutz und Gelegenheit, uns zu sammeln.“
Sie schnaubte, offensichtlich wütend auf sich selbst. „Ich habe den Klan schon wieder enttäuscht.“
„Glaubst du etwa, ich enttäusche den Klan nicht?“, fragte er.
Überrascht blickte sie ihn an; dieser Gedanke war ihr augenscheinlich noch nie gekommen. Die Frostwölfe hatten so gut wie alles verloren – ihre Heimat, ihre Vergangenheit und sogar das Leben ihrer Kinder. Und nun hatte Durotan sie an einen Ort gebracht, der beinahe ebenso trostlos war wie ihr unter flüssigem Stein begrabenes Dorf.
„Wir müssen ihnen vom dem See erzählen“, entschied er.
Draka atmete tief durch. „Wir werden sauberes Wasser finden. Und Land, auf dem noch Leben gedeihen kann. Du musst daran glauben, mein Häuptling. Wichtiger noch, du musst dafür sorgen, dass sie es auch glauben.“
Sie hatte recht. Wenn der Klan den Glauben an seinen Anführer verlor, würde er untergehen. Durotan brummte zustimmend, dann wandte er sich um und ging zurück zu den Felsen der Zuflucht.
13
Die Jüngsten und die Ältesten starben zuerst.
Als das fahle, graue Licht über das Land kroch, weinten Mütter um Kinder, die nie wieder aus ihrem Schlaf erwachen würden. Andere fielen im Lauf der ersten Tage einem quälenden Husten zum Opfer, weil ihre winzigen Lungen sich einfach nicht von der Hitze und dem Rauch der Schreckensnacht erholen konnten. Auch für die Alten erwiesen sich die Nachwirkungen jener verheerenden Minuten, als der Altvaterberg zerstört worden war, als zu brutal. Die herzzerreißende Aufgabe, die Toten zu bestatten, wurde zum Auslöser für Streitigkeiten: Die einen wollten Bäume beschneiden, um die Leichen zu verbrennen, andere beharrten darauf, dass sie in die Erde gebettet würden. Doch die Lebenden brauchten das wenige Feuerholz mehr als die Toten, und der Boden war fest gefroren. Letztlich sammelten die Orcs Steine und bedeckten ihre Toten darunter, um zumindest die Aasfresser von den Leichen tapferer Frostwölfe fernzuhalten.
Jeden Tag brachen Gruppen von ihrem Lager auf, manche, um Wild zu jagen, andere, um nach Essbarem und frischem Wasser zu suchen. Weder vom einen noch vom anderen gab es genug, und manche, die die Zuflucht verließen, kehrten nie wieder dorthin zurück. Die Suchtrupps, die ihnen hinterhergeschickt wurden, fanden ein paar Leichen, die zur Beute für Raubtiere geworden oder einfach zu weit davongewandert waren und sich verirrt hatten. Viele der Vermissten blieben jedoch verschwunden, und Durotans erster Gedanke war, dass sie Rotläufern zum Opfer gefallen sein mussten. Doch niemand fand Spuren, die auf diese abscheulichen Kreaturen hingedeutet hätten, und schließlich begann er zu hoffen, dass die Blutträger gemeinsam mit dem Altvaterberg untergegangen waren. Dann hätte diese Katastrophe zumindest ein Gutes gehabt.
Ein wenig Wasser fanden sie in den Aushöhlungen von Bäumen, wo es größtenteils vor der Asche geschützt gewesen war. Es brachte sie durch die Zeit des ersten Schnees, der schmutzig war, grau statt weiß, und erst nach einer Weile wieder von sauberen Flocken abgelöst wurde. Das Wasser zu kochen und zu aromatisieren, schien zu helfen, und schon bald wurden Suppen aus Kiefernnadelbrühe, Kräutern und gemahlenen Nüssen zur Grundnahrung. Während der frühen Tage ihres Exils war Draka noch nicht stark genug gewesen, um Wild zu erlegen, also hatte sie sich eine Zeit lang von Insekten und kleinen Tieren ernährt. Jetzt lehrte sie die Kinder, wie man Schlingen herstellte und auslegte, während die Erwachsenen auf der Jagd waren. Alle paar Tage fingen sie so eine kleine Kreatur, deren Fleisch kleingeschnitten und der Brühe hinzugefügt wurde, damit alle zumindest ein wenig Stärkung bekamen.
Im Bemühen, die Moral des Klans aufrechtzuhalten und einige der Gegenstände zu ersetzen, die sie zurückgelassen hatten, ermutige Durotan seine Frostwölfe, die wenigen Felle zu gerben, derer sie habhaft werden konnten. Der Gedanke, Hasenfelle zusammenzunähen, um darauf zu schlafen, hätte sie einst mit Verachtung erfüllt, doch damit war es nun vorbei. Äste und Zweige wurden gesammelt, um primitive Körbe oder andere Behältnisse zu flechten. Holzstücke wurden ausgehöhlt, um Wasser zu transportieren, als dieses immer seltener wurde.