Drek’Thar und die anderen Schamanen ersuchten die Geister um Antworten, aber diese sprachen immer seltener zu ihnen. Doch dann, in einer denkwürdigen Nacht, wies der Geist des Wassers Drek’Thar an, auf einen Rothäher zu warten, der entweder am Morgen oder am Abend in einer geraden Linie über das Land fliegen würde. Die Kinder machten ein Spiel daraus, nach dem Vogel Ausschau zu halten, und wer ihn entdeckte, das versprach ihr Häuptling ihnen, würde in einem besonderen Lied besungen werden.
Es war das einzige Zeichen, das ihnen genannt worden war, aber als der Himmel mehrere Tage leer blieb, begann Durotan daran zu zweifeln, dass der Vogel je erscheinen würde.
Bis er erschien.
Draka, Durotan und Geyah waren schon vor Tagesanbruch losgezogen, um an zwei verschiedenen Orten zu jagen. Der Schutz des Lagers oblag in ihrer Abwesenheit Orgrim, und als Durotan zurückkehrte, sah er seinen Freund ungeduldig auf und ab gehen. „Endlich bist du wieder da“, sagte Orgrim. „Ich kenne mich nicht mit der Welt der Geister aus, und Drek’Thar weiß das genau.“
Der alte Schamane saß ruhig und reglos auf einem Stein, neben sich Nokrars jüngste Tochter, Nizka, die alles andere als ruhig oder reglos war, während sie unentwegt mit ihrem langen Zopf spielte. Jetzt gerade kaute sie mit ihren winzigen Zähnen darauf herum. Durotan blickte mit gerunzelter Stirn von ihr zu Drek’Thar.
„Was ist los?“, fragte er.
Der Schamane sagte: „Der Geist des Wassers hat uns den Rothäher geschickt, wie versprochen.“
„Was?“
„Die junge Nizka hat ihn zuerst gesehen, unmittelbar nach dem Morgengrauen. Sie und die anderen Kinder sind ihm gefolgt, bis er, nicht weit entfernt, auf einem Felsen landete. Wir wollten deine Rückkehr abwarten, bevor wir der Sache nachgehen.“
„Du hast mir ein Lied versprochen, Häuptling!“, piepste Nizka dazwischen. Hinter ihr standen, den Blick fest auf ihre Tochter gerichtet, Nokrar und Kagra. Irgendetwas an ihnen, an überhaupt allen in der Nähe, war seltsam, und es dauerte einen Moment, bis Durotan erkannte, was es war. Die Erkenntnis ließ ihn stutzen.
Alle lächelten.
Ohne nachzudenken, drehte er sich um und sah Draka an. Auch sie wirkte überrascht, aber erfreut. Ihr Grinsen wurde noch breiter, als sich ihre Blicke begegneten. Es kostete Durotan große Mühe, sich loszureißen und seine Aufmerksamkeit wieder auf Nizka zu richten.
„Du hast dir ein Lied verdient“, sagte er. „Und weißt du, was noch? Du hast es dir verdient, mich und Drek’Thar zu dem Stein zu begleiten, zu dem der Rothäher dich geführt hat.“ Er setzte sich das Mädchen auf seine nackten Schultern, und es quiekte vor Lachen. Wie lange war es wohl her, dass er diesen Laut das letzte Mal gehört hatte?
Geist des Wassers, dachte er. Bitte, spiel nicht mit uns. Nicht jetzt. „Dann sag mir mal, kleines Scharfauge, wohin ist dieser Rothäher geflogen?“
„Da lang.“ Nizka deutete mit dem Finger und steckte dann wieder den Zopf in ihren Mund. Palkar half Drek’Thar aufzustehen, dann brachen die vier in die Richtung auf, in welche das Mädchen gezeigt hatte. Doch sie blieben nicht lange zu viert; Draka setzte sich neben Durotan und lächelte ihn und das quietschvergnügte Kind auf seiner Schulter an. Auch Geyah schloss sich ihnen an, und bevor er sich versah, führte der Häuptling eine ganze Schar an.
Nizka führte sie zu einem Haufen von Steinen inmitten der Ebene, die zwischen dem vergifteten See und den Bäumen lag. „Das da ist er. Nein, nicht der, der andere, da drüben. Der, der aussieht wie eine schlafende Ente.“
Für Durotan sah er nicht aus wie eine schlafende Ente, und seine Schritte wurden langsamer, als sie sich dem Fels näherten. Was war das? Ein Fels mitten im Nirgendwo, den sie alle schon gesehen hatten, ohne ihm aber je Aufmerksamkeit zu schenken. Nichts daran wirkte in irgendeiner Weise besonders, und ganz sicher gab es hier kein Wasser.
Draka trat an seine Seite, um ihm stummen Beistand zu leisten. Orgrim stellte sich verwirrt vor den Felsen, während Palkar sich vorbeugte und in Drek’Thars Ohr flüsterte, um ihm die Szene zu beschreiben.
Der alte Schamane wirkte verärgert. „Der Geist des Wassers hat uns ein Zeichen geschickt“, beharrte er. „Nun liegt es an uns, es zu deuten. Nizka, Kind, wo genau landete der Vogel?“
„Einfach obendrauf“, antwortete das Mädchen. Durotan übergab Nizka ihrem Vater und trat dann ebenfalls vor den Stein, um ihn genau zu untersuchen. Seine Augen suchten nach einem Spalt, durch den das kostbare Nass fließen könnte, aber da war nichts. Er kniete sich daneben und presste die Hände auf den Boden. Keine Feuchtigkeit. Der Fels lag einfach nur halb in der Erde vergraben da.
Er richtete sich wieder auf und sah Orgrim an. Sein alter Freund kannte ihn so gut, dass er nicht einmal etwas sagen musste; sie waren vielleicht keine Brüder im Blute, aber definitiv Brüder im Geiste. Gemeinsam legten sie die Schultern gegen den Felsen und schoben.
Nichts geschah. Sie versuchten es ein zweites Mal und dann noch einmal.
Plötzlich war Draka neben ihnen und stemmte sich gegen den massiven Felsen. Sie war ungewöhnlich stark für eine Frau, aber ihr fehlte die Körpermasse, die schiere, physische Kraft eines männlichen Orcs. Sie würde ihnen ganz sicher nicht helfen können, den Felsen zu bewegen. Er öffnete den Mund, wollte sie gerade bitten zurückzutreten, als ihr Kopf in seine Richtung herumruckte. Die Entschlossenheit in ihren Augen duldete keinen Widerspruch, und so nickte er nur. Anschließend versuchten sie es zu dritt noch einmal.
„Wir wurden für würdig befunden!“, erklang Drek’Thars Stimme. „Der Geist des Wassers weiß nun, dass ihr seinen Worten Vertrauen schenkt. Er hat mir verboten, euch zu helfen – bis jetzt.“
Während Durotan ihn anstarrte, ging Drek’Thar zu dem Felsen hinüber, wobei er seinen Stab halbkreisförmig vor sich hin- und herbewegte. Nachdem er die Wölbung des mächtigen Steins so ertastet hatte, rammte er das Ende des Stabs ungefähr eine Handbreit in die sandige Erde unter dem Felsen. Der Boden war zu fest, um tiefer hineinzustoßen, und selbst, falls es ihm gelungen wäre, tiefer zu dringen; sein Stab war klein und dürr, kaum breiter als ein Schössling. Er würde zerbrechen, und das wäre das Einzige, was der Schamane von seinen Mühen hätte. Doch obwohl er das wusste – es wirklich wusste –, hoffte Durotan, dass er sich irrte.
Er wagte kaum zu atmen, als er beobachtete, wie Drek’Thar sich gegen den Stab lehnte. Das Holz verbog sich unter seinem Gewicht, und im Geiste hörte Durotan schon das unvermeidliche, herzzerreißende Knacken, doch dann … bewegte sich der Fels! Drek’Thar drückte weiter gegen den Stab, und so unmöglich es erschien, der mächtige Gesteinsbrocken wurde aus der Erde gerissen, in welche er unzählige Jahre eingebettet gewesen war.
Als er zu wanken begann, sprangen Durotan, Orgrim und Draka vor und schoben mit wiedererstarkter Kraft, bis der Felsen unvermittelt ein paar Fuß zur Seite rollte. Vor Erschöpfung keuchend, wandten sich die drei dem Krater zu, den er im Boden hinterlassen hatte.
Zu seiner Überraschung erblickte Durotan dort keine trockene, gefrorene Erde, sondern Schlamm. Er fiel auf die Knie und begann, mit den Händen große Klumpen feuchter Erde wegzuschaufeln. Schon bald formten sich kleine Pfützen in der Kuhle. Der Geist des Wassers hatte ihnen wahrlich ein Geschenk gemacht – und der Geist der Erde ebenfalls; er hatte diese Quelle zwar vor ihnen geheim gehalten, sie dadurch aber auch vor dem Ascheregen geschützt.
Durotan formte mit seinen mächtigen Händen eine Kuhle und füllte sie vorsichtig mit Wasser. Als er sich wieder aufrichtete, sah er Nizka, die vor Aufregung die Augen weit aufgerissen hatte. Er stemmte sich auf die Füße und ging zu ihr hinüber.