„Dieses Mädchen hat das Zeichen gesehen, das der Geist des Windes uns gab“, erklärte er, an die versammelten Orcs gerichtet. „Sie ist ihm hierher gefolgt. Nun soll sie die Erste sein, die von diesem Wasser trinkt. Als Zweiter ist Drek’Thar an der Reihe, der die Vision hatte.“
Nizka leckte sich die rissigen Lippen und blickte sehnsüchtig auf das Wasser hinab, aber dann sagte sie: „Nein. Drek’Thar sollte als Erster trinken. Er ist unser Ältester. Er hat uns gesagt, wo wir den Rothäher suchen sollen. Ohne ihn hätte ich ihn nie gefunden.“
Durotans Augen brannten, und als er sprach, musste er sich zusammenreißen, damit seine Stimme nicht zitterte. „Nizka, Tochter von Nokrar, Sohn von Gozek … du bist ein wahrer Frostwolf.“
Das Mädchen stand hochaufgerichtet da, und seine Augen leuchteten vor Stolz, während Durotan sich zu Drek’Thar umwandte und ihm das leicht schlammige Wasser anbot. Palkar führte die Hände des alten Schamanen an seine Finger, und Drek’Thar trank begierig. Anschließend hob er sein feuchtes Gesicht.
„Rein und klar“, sagte er, seine Stimme vor Emotionen bebend. Nach einer kurzen Pause fügte er mit einem Lachen hinzu: „Mit nur einer Spur von unserer geliebten Erde.“ Die Anspannung löste sich, und alle brachen in erleichterten Jubel aus. Die kleine Nizka wurde hochgehoben und von einem Paar liebender Arme zum nächsten gereicht. Sie war die Heldin des Tages …
„Ihr alle, trinkt!“, forderte Durotan seinen Klan auf. „Anschließend gehen wir zum Lager zurück und holen die Schalen, die wir geschnitzt haben. Wir werden trinken, bis wir nicht mehr trinken können. Der Tod des Altvaterberges mag uns weit von unserer Heimat fortgeführt haben, aber die Geister von Wasser und Erde zeigen, dass sie uns nicht vergessen haben.“
Er trat zurück und beobachtete die anderen, sein Herz war dabei beschwingter, als es zu irgendeinem anderen Zeitpunkt während dieser langen, dunklen Wochen gewesen war. Sauberes Wasser bedeutete weniger Krankheiten. Es bedeutete Stärkung für längere Reisen, um in weiter entfernten Gegenden nach Nahrung zu suchen. Sobald sie die Quelle weiter freigelegt hätten, würden außerdem wilde Tiere kommen, um ebenfalls hier zu trinken, und das wiederum bedeutete Fleisch für ihre Bäuche, die schon lange viel zu leer waren.
„Heute ist ein guter Tag“, befand Draka, die sich an seine Seite gestellt hatte.
„In der Tat“, erwiderte er. „Ein Tag, an den wir uns in schlechten Zeiten erinnern werden.“ Er drehte sich zu ihr herum. „Du hast dich gegen den Stein gestemmt, obwohl es ausgeschlossen war, dass du ihn bewegst.“
Sie zuckte mit den Schultern, aber man konnte sehen, dass sie nervös war. „Ich spürte, dass ich es versuchen musste. Außerdem war es ebenso aussichtslos, dass Drek’Thar ihn bewegt.“
„Drek’Thar schreitet auf einem anderen Pfad als der Rest von uns. Er kann auf die Hilfe und den Rat der Geister bauen. Du nicht.“
Sie musterte ihn ruhig, dann schüttelte sie den Kopf, dass ihre langen Zöpfe hin und her flogen. „Nicht ganz. Ich hatte dich, mein Häuptling.“
Ihre Worte berührten ihn zutiefst, und plötzlich spürte er den Drang, ihr zu sagen, was er mit niemandem sonst geteilt hatte, nicht einmal mit Geyah oder Orgrim. Falls sie das verstand, dann, da war er sicher, würde sie auch ihn verstehen. Er war nicht daran gewöhnt, verwundbar zu sein, jemandem die Macht zu geben, ihm wehzutun. Doch er spürte, dass Draka niemals das Vertrauen missbrauchen würde, das er in sie setzte.
Er atmete tief ein. „Es war nicht leicht für mich seit dem Tod meines Vaters“, begann er. „Du hast vielleicht andere darüber flüstern gehört.“
Draka legte den Kopf schräg. Sie schien unsicher zu sein, in welche Richtung sich ihre Unterhaltung entwickelte. „Ich habe davon gehört, ja“, sagte sie ehrlich. „Dass er am Ende nicht einmal seine Waffe heben konnte.“
„Es war nicht so, als hätte er Angst gehabt zu kämpfen“, erklärte Durotan, und während die anderen ringsum feierten und aufbrachen, um seinem Befehl zu folgen, erzählte er ihr von der seltsamen Krankheit, die seinen Vater kurz vor seinem Tod heimgesucht hatte. Geyah und Drek’Thar wussten natürlich davon, da auch sie an Garads Krankenbett gestanden hatten. Doch sonst hatte Durotan es niemandem gesagt, selbst Orgrim nicht. Draka hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen, während er ihr schilderte, was geschehen war und wie er alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um das Andenken seines Vaters von diesem Makel reinzuwaschen.
„Also“, murmelte sie, nachdem er schließlich verstummt war, „musstest du nicht nur den Verlust eines Vaters verkraften und dich Herausforderungen und Nöten stellen, wie unser Volk sie zuvor nicht kannte … Du musstest zudem auch noch die Bürde tragen, Garads Andenken zu ehren. Die wahre Stärke eines Klans liegt darin, dass seine Mitglieder einander helfen. Ich bin froh, dass deine Mutter und Orgrim dich unterstützt haben, aber dennoch war deine Prüfung schwerer, als einer alleine ertragen sollte.“
Durotan war seit jeher mit Respekt behandelt worden. Wie er inzwischen wusste, hatte er bis zu Garads Tod ein ungleich leichteres Leben gehabt als der Rest des Klans. Er war es nicht gewöhnt, dass man ihm etwas verwehrte. Umso nervöser fühlte er sich in diesem Augenblick, als er nach Drakas Hand griff, die zwischen seinen Fingern so winzig wirkte.
„Ich hatte Glück“, sagte er. „Ich konnte auf die Weisheit der Älteren bauen, und auf einen Freund, der mir nicht näherstehen könnte, wenn er demselben Mutterleib entstammte. Aber du hast recht. Es gibt vieles, was schwer auf meinen Schultern lastet.“
Durotan blickte zu seinem Klan hinüber. Jemand hatte Werkzeuge geholt, und einige Orcs waren bereits mit Feuereifer dabei, die wertvolle Wasserquelle auszuweiten.
Als er sich wieder Draka zuwandte, starrte er auf ihre Hand in der seinen hinab. Er wollte ihr nicht ins Gesicht sehen, bis er erklärt hatte, was er im Herzen trug. „Draka … dein Geist ist scharf, wann immer jemand Rat braucht. Dein Herz ist gütig, wenn der Klan leidet. Ich wollte schon so lange mit dir darüber sprechen, aber ich fand, dass ich nicht genug zu bieten habe. Es gab eine Zeit, da bedeutete es Ehre und war es ein Luxus, die Gefährtin des Häuptlings zu sein. Doch nun kann ich dir weder das eine noch das andere bieten. Du müsstest große Bürden tragen und zusehen, während ich mit schwierigen Entscheidungen ringe. Aber … ich glaube, meine Entscheidungen wären besser, wenn du mir dabei helfen würdest. Mein Herz wäre stärker, wenn deine Liebe darin wohnen würde. Und …“
Jetzt riskierte er einen Blick in Drakas Gesicht. Ihre Augen waren weit geworden, während er gesprochen hatte, und ihr Atem kam schnell, aber sie hatte ihre Hand nicht zurückgezogen. „Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um dir ein guter Partner zu sein. Trotz all der Lasten, die ich mit mir trage. Draka, Tochter von Kelkar, Sohn von Rhakish … willst du mich zum Gefährten?“
Ihre Miene wurde weicher, und unvergossene Tränen glänzten in ihren warmen, dunklen Augen. „Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh“, sagte sie. „Du hast recht. Dies sind dunkle und beängstigende Zeiten für uns. Du trägst schwere Bürden auf dir. Niemand weiß, was uns morgen erwartet, und darum …“
Er wappnete sich für ihre Zurückweisung.
„… bist du ein Idiot, dass du all das nicht schon viel früher ausgesprochen hast. Ja, ich will dich als meinen Gefährten, solange ich dir stets die Wahrheit sagen darf.“
Sein Klan stand noch immer am Rande des Hungertodes, ihre Zuflucht war unzureichend geschützt und bot nie wirklich Wärme. Bis vor ein paar Minuten hatten sie noch nicht mal eine verlässliche Wasserquelle gehabt. Doch nichts davon war in diesem Moment wichtig, als Durotan in Drakas reizend verschlagenes, liebevolles Gesicht blickte.
„Dass du die Wahrheit sagst, ist der Grund, warum ich dich liebe“, erklärte er. „Und ich werde dich weiterlieben, bis ich meinen letzten Atemzug tue. Komme, was da wolle.“