„Ich werde Parley mit Gul’dan halten“, erklärte er dem Boten. „Aber ich mache keine Versprechen.“
Geyah, Drek’Thar und Orgrim waren alles andere als erfreut über die Entscheidung ihres Häuptlings. Sie saßen mit Durotan und Draka in ihrer neuen Unterkunft, die seit der Verbindung des Paares stabiler und wohnlicher gemacht worden war. Dennoch gab es im Inneren kaum Platz für so viele Orcs, und sie mussten sich zusammendrängen, um ungestört miteinander zu sprechen. Kaum, dass sie ihre Umhänge zurechtgerückt und die kalten Hände über das wärmende Feuer gehoben hatten, eröffnete Geyah die Runde. „Sein Angebot wurde bereits von einem Frostwolf abgelehnt.“
„Durotan ist nicht sein Vater.“ Diese Worte der Vernunft stammten von Orgrim. „Zudem ist viel geschehen, seit Gul’dan das erste Mal an die Frostwölfe herangetreten ist. Vielleicht glaubt er, der neue Häuptling habe eine andere Antwort für ihn.“
„Durotan ist seines Vaters Kind und ein wahrer Frostwolf“, erwiderte Geyah. „Unser Klan hat so viel durchlitten.“ Flehentlich blickte sie ihren Sohn an. „Da wirst du doch sicher nicht jetzt unsere Traditionen aufgeben.“
„Ich bin nicht mein Vater, damit hat Orgrim recht. Aber ich glaube an die Traditionen unseres Klans. Mein Vater hat uns gut geführt. Ich finde nur nicht, dass es schaden kann, Gul’dan anzuhören. Vielleicht bringt er diesmal ja einen echten Beweis für dieses fruchtbare Land, von dem er sprach.“
„Wo die Tiere darum kämpfen, zum Abendessen geschlachtet zu werden“, fügte Draka leise hinzu, und die beiden Gefährten teilten ein Lächeln. „Ich muss zugeben, ich bin froh, dass du einem Treffen zugestimmt hast. Ich habe diesen Hexenmeister noch nie zu Gesicht bekommen, aber ich habe viel über ihn gehört.“ Ihre Miene wurde wieder ernst, als sie ihn sanft am Arm berührte. „Sei vorsichtig, mein Herz. Ich mag Scherze über ihn machen, aber alles scheint darauf hinzudeuten, dass er gefährlich ist.“
Durotan starrte in die knisternden Flammen und dachte an den Fluss aus Feuer. „Ich glaube, ich habe gelernt, Respekt vor der Gefahr zu haben.“
Die Frostwölfe taten ihr Bestes, zumindest den Anschein von Tradition und Formalität zu demonstrieren, während Gul’dan in ihr Lager ritt. Trommler begannen, auf die gespannten Häute ihrer Instrumente zu schlagen, als der Trupp des Hexenmeisters in Sicht kam, und ihr steter Rhythmus erinnerte an das Pochen eines Herzens. Durotan stand bereit, seinen Gast zu begrüßen, in einer Hand Donnerschlag, Spalter hinter seinen Rücken geschnallt. Sein Gewand war mit Knochen und hellen Federn verziert, die während der ruhigeren Tage von den Kindern gesammelt und dann unter großer Mühe in das Leder eingenäht worden waren, außerdem hing ein langer Umhang von seinen Schultern. Wen kümmerte schon, ob die Knochen und das Fell des Umhangs von Hasen stammten? Ob er nun das Leder kleiner Tiere oder mächtiger Grollhufe trug, ob es neu oder schmutzig und abgewetzt war – er war Durotan, und er war der Häuptling des Frostwolfklans.
Draka stand neben ihm, eine Kette aus Knochen und Federn um ihren dunkelbraunen Hals. Rituelle Perlen waren in ihr dichtes, schwarzes Haar geflochten, dieselben Perlen, die vor zwei Jahren Geyahs Mähne verziert hatten, als sie noch die Gefährtin des Häuptlings gewesen war. Orgrim hatte sich zu Durotans Linken aufgebaut, schweigsam und imposant. Geyah selbst wartete an Drakas Seite, und Drek’Thar stand neben Orgrim, auf den Stab gestützt, mit dem er und die Geister einen Felsen aus dem Boden gelöst hatten.
Gul’dan, der „Anführer der Horde“ hatte diesmal ein größeres Gefolge bei sich als noch zu Garads Zeiten; ein halbes Dutzend überraschend gesund aussehender Orcs, die ihm gewiss dabei geholfen hatten, unversehrt durch dieses verwüstete Land zu reisen, begleiteten ihn. Sie trugen Umhänge mit schweren Kapuzen, sodass man ihre Gesichter nur erahnen konnte, aber ihre Körper wirkten kräftig und in bester Verfassung.
Diese Gruppe begleitete Gul’dan aber nicht anstelle der eigenartigen, gertenschlanken Sklavin, sondern zusätzlich zu ihr. Wie bei seinem letzten Besuch befand sich Garona wieder an der Seite des Hexenmeisters. Warum brachte er sie schon wieder mit? Gewiss war es gefährlich für sie, so abstoßend dürr, wie sie war. Durotan hatte den Eindruck, als er könnte er ihren Arm mit Daumen und Zeigefinger brechen. Dennoch hatte der Hexenmeister zweimal die Notwendigkeit gesehen, sie mit auf seine Reise zu nehmen. Irgendeine Bedeutung musste er ihr also beimessen.
Gul’dan rutschte von seinem Wolf und trat vor. Durotan musterte ihn und sog alle Details in sich auf. Der Hexenmeister war noch gebeugter, aber auch stämmiger, als er ihn in Erinnerung hatte. Darüber hinaus wirkte seine grüne Haut dunkler, aber vielleicht war das auch nur eine List, die das schwache Licht des Spätnachmittags Durotans Augen spielte. Gul’dans Lächeln – dieses zuversichtliche, gerissene, leicht unheimliche Lächeln – hatte sich jedoch nicht verändert.
Gleiches galt für seine Kleidung. Er trug noch immer den Umhang mit den Dornen und den winzigen Schädeln, noch immer ging er auf einen geschnitzten Stab gestützt. Und seine Augen brannten noch immer in demselben, grünen Feuer. Durotan schauderte bei ihrem Anblick.
Er hörte, wie Draka knurrte, so leise, dass nur er es wahrnehmen konnte, aber dann sah er, dass seine Gefährtin nicht etwa den widerwärtigen, aber imposanten Gul’dan anstarrte, sondern Garona. Durotan konnte erkennen, dass der breite Ring so oft gegen den viel zu dünnen Hals des eigenartigen Mischlings gescheuert hatte, dass Narben zurückgeblieben waren. Dennoch stand sie hochaufgerichtet, einen trotzigen Ausdruck auf dem Gesicht, gar so, als sei der grobe Metallreif eine wunderschöne Kette. Eine Woge der Verwirrung überkam Durotan, als er diesen Ausdruck wiedererkannte; es war dieselbe Miene, die Draka während der Zeit nach ihrer Rückkehr zur Schau getragen hatte. Schwach erinnerte er sich daran, dass ihm Gedanken an seine jetzige Partnerin durch den Kopf gegangen waren, als er Garona zum ersten Mal gesehen hatte. Ob Draka sich wohl auch in dieser stahläugigen Sklavin wiedererkannte? War es wirklich erst zwei Jahre her, dass er sich all diese Fragen über Gul’dans Begleiterin gestellt hatte? Warum sie grüne Haut hatte. Warum sie so wichtig für den Hexenmeister war. Er hatte diese Fragen nie ausgesprochen, denn es war das Treffen seines Vaters gewesen. Jetzt hingegen leitete er das Parley, aber er erkannte – ebenso, wie Garad es vermutlich vor zwei Jahren erkannt hatte –, dass es schlichtweg Wichtigeres gab, das seine Aufmerksamkeit erforderte.
Das Trommeln verstummte, als Gul’dan vor dem Häuptling der Frostwölfe stehen blieb. Der grüne Orc stützte sich auf seinen Stab und schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf.
Durotan begegnete seinem durchdringenden Blick voller Zuversicht. Er hatte so viel gesehen und gelernt – und verloren –, seit er Gul’dan das letzte Mal begegnet war, dass der Hexenmeister ihm längst nicht mehr so einschüchternd erschien wie einst. Geyah hatte ihm erklärt, welche Worte er aufsagen musste, um das Ritual zu ehren, und er sprach sie laut und mit all der Autorität aus, die er sich im Laufe der letzten beiden Jahre angeeignet hatte.