Überrascht und erfreut drehte Kovogor den Kopf in ihre Richtung. Durotan hatte seiner Gefährtin zwar nicht das Wort erteilt, aber anstatt sie zu tadeln, hob er den Arm und legte seine Hand auf die ihre. „Meine Partnerin, Draka, weiß mehr über diese Dinge als die meisten“, sagte er.
Garonas Blick huschte zu Draka hoch, und ihre Augen weiteten sich. Mit dürren Fingern griff die Sklavin nach ihrem Hals und berührte den Ring, der ihn umschloss, dann ließ sie die Hand schnell wieder sinken. Zuvor hatte sie stets gleichgültig und abweisend gewirkt, so, als würde sie versuchen, sich von der Situation zu distanzieren. Doch jetzt betrachtete sie Draka mit offener Neugier, und zu Durotans Überraschung verzerrte ein schmales Lächeln ihre Lippen. Was findet sie so interessant an ihr?, fragte der Häuptling sich einen kurzen Moment lang, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Kovogor richtete.
„Dann hat Draka dir sicher von vielen Dingen erzählt, die in diesen düsteren Zeiten von Nutzen sein können“, sagte Kovogor. „Bei der Horde war es ebenso. Wir lernten, dass unser Feind nicht irgendein anderer Klan war. Nein, der wahre Feind war Hunger. Durst. Gegeneinander zu kämpfen, war keine Lösung für diese Probleme. Diese Erkenntnis, dieses Gefühl der Einheit – das ist es, was Gul’dan uns gegeben hat.“ Seine Augen suchten Durotans Blick. „Weißt du noch, wie es war, als wir uns begegneten, als unsere Klans miteinander jagten? Ich habe nur gute Erinnerungen an diese Zeit.“
„Ich ebenso“, musste Durotan zugeben.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich jemanden Freund nennen würde, der nicht zu meinem Klan gehört, aber ich tat es. Dieses Band, dieses Gefühl, gemeinsam dasselbe Ziel zu verfolgen – das ist es auch, was die Horde antreibt. Wir arbeiten zusammen, um den Übertritt in ein neues Land vorzubereiten, in dem es genug für uns alle gibt.“
Durotan musterte forschend den Orc, den er einst für kurze Zeit seinen Freund genannt hatte. Durch Draka hatte er bereits gelernt, dass Zusammenarbeit nützlich sein konnte, und nun bestätigte Kovogor ihm, dass es bei der Horde um genau dasselbe ging, nur eben in einer Größenordnung, wie er es sich kaum vorstellen konnte. Sein Blick wanderte wieder zu Gul’dan. Konnte es sein, dass er – dieser Hexenmeister, der so unheimlich wirkte und von den Geistern gemieden wurde – dieses Gefühl von Kooperation und Einheit nicht nur zum Wohl einiger weniger Orcs schürte, sondern zum Wohle aller?
War es das, was es bedeutete, Teil der Horde zu sein?
Gul’dan behauptete, er sei zurückgekehrt, weil er Durotans Interesse gesehen habe. Der Häuptling der Frostwölfe musste eingestehen, dass der grüne Orc recht gehabt hatte, und das nicht nur in diesem Punkt; schließlich hatte er auch prophezeit, dass die Nöte in Draenor nur noch zunehmen würden.
„Also bist du zu den Frostwölfen gekommen, weil wir der einzige Klan sind, der sich der Horde noch nicht angeschlossen hat?“
Gul’dan runzelte die Stirn. „Nein. Es gibt noch andere wie euch, die sich weigern, zu uns zu stoßen“, räumte er ein. „Manche wurden zu Rotläufern, wie jene, die deinen ehrenwerten Vater ermordeten. Andere bleiben einfach unter ihresgleichen und besiegeln dadurch selbst ihr Schicksal. Ich sagte es schon einmal, und ich werde es wieder sagen: Die Frostwölfe sind in ganz Draenor als stolzer, eigenständiger und starker Klan bekannt. Falls ihr euch meiner Horde anschließt, würdet ihr durch euer Beispiel zeigen, dass nichts Verwerfliches daran ist. Du könntest deinen Leuten wieder zu essen geben. Deine Kinder würden gutes Fleisch bekommen, um zu starken und gesunden Orcs heranzuwachsen. Natürlich würden die Frostwölfe einen Ehrenplatz innerhalb meiner Horde einnehmen. Du selbst würdest mir helfen sie anzuführen, denn mit dir an der Spitze würden uns auch die folgen, die sich im Moment noch weigern. Ich bitte dich, für diese Klans zu sein, was Kovogor heute für dich war – eine Stimme der Vernunft, eine Stimme, die sie respektieren.“
„Und du brauchst sie.“
„Ich möchte, dass du sie überzeugst, ihren Stolz beiseitezulegen – nicht um der Horde willen, sondern zu ihrem eigenen Wohl. Sie brauchen uns“, betonte Gul’dan. „Schon bald werden sie sich einer Entscheidung gegenübersehen: Entweder, sie schließen sich meiner Horde an, sie werden zu Rotläufern, oder sie sterben. Durotan, du bist kein Narr. Du musst es doch auch sehen!“
Gerade eben, während Kovogors Schilderungen, hatte der Hexenmeister noch wohlwollend, beinahe onkelhaft gewirkt, aber jetzt funkelten diese seltsamen grünen Augen vor Verärgerung. Durotan blickte von ihm zu seiner Sklavin, die im Vergleich zu echten Orc-Frauen wie Draka oder Geyah klein und schrecklich feinknochig wirkte und doch so unglaublich stolz war.
Nein. Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh, war kein Narr. Doch beinahe hätte er sich zu einem gemacht. Um ein Haar hätte er sich von Kovogors Worten über die Einheit der Horde und ihre großen Pläne verführen lassen. Hätte er Traditionen den Rücken gekehrt, die fast ebenso alt waren wie der Altvaterberg. Hätte er einen Klan verkauft, der schon immer frei, stolz und leidenschaftlich gewesen war und es auch immer bleiben würde.
Beinahe hätte er sich zum Sklaven gemacht, und schlimmer noch, er hätte seine Leute gleich mit versklavt.
Gul’dans Worte hatten ihn verraten. Er sprach nicht von „der Horde“, auch nicht von „unserer Horde“ – er sagte „meine Horde“. Er mochte vom Wohl der Orcs sprechen, über den Schutz vor Not und womöglich sogar der Ausrottung reden, aber Gul’dan war kein gütiger Onkel, der die geschwächten Klans selbstlos an seine Brust führte, um sie zu stärken. Er wollte etwas von ihnen. Er brauchte etwas von ihnen. Und wenn die Geister seine Gegenwart nicht wollten, dann wollten auch die Frostwölfe sie nicht.
Durotan glaubte nicht, dass Kovogor log, wenn er von den Vorteilen der Horde sprach. Doch welchen Preis hatten die Orcs dafür bezahlen müssen? Was brachte es ihnen, gemeinsam auf die Besiedelung einer neuen Heimat hinzuarbeiten, falls Gul’dans wundersames Land nur eine Illusion war? Oder falls der versprochene Wohlstand wirklich nur für ein paar erlesene Wenige bestimmt war? Doch selbst, falls alles wahr sein sollte: Die Geister hatten sich stets um die Frostwölfe gekümmert. Sie hatten den Klan zu frischem Wasser geführt und sie durch den Winter gebracht.
Garad hatte das Angebot des Hexenmeisters abgelehnt, weil er die Traditionen der Frostwölfe am Leben erhalten wollte. Durotan würde dieselbe Entscheidung treffen, um die Frostwölfe am Leben zu erhalten.
Gul’dans hellgrüne Haut, seine seltsamen Augen, der Umstand, dass er in keinem Klan Wurzeln hatte oder dass er Sklaven hielt – nichts davon würde den Frostwölfen weiterhelfen. Die Versprechen dieser … Kreatur waren es nicht wert, dafür den Stolz und letztlich womöglich sogar das Leben der Frostwölfe aufs Spiel zu setzen.
„Mein Vater sagte dir, dass wir nicht leiden“, begann Durotan. Die Erinnerung an diese Worte war so stark und so deutlich, als hätte er sie gerade erst gehört. „Wir überleben. Und das werden wir auch weiterhin tun.“
Garona begriff, worauf er hinauswollte, bevor es ihrem Meister dämmerte, und ihre zarten Nasenflügel bebten vor Überraschung. Ihre Augen, die bislang auf Durotan gerichtet gewesen waren, wanderten zu Draka.
„Draka! Jeskaa daletya vas kulduru!“
Alle Anwesenden starrten die Sklavin erstaunt und ungläubig an. Bislang war Durotan nicht einmal sicher gewesen, ob sie überhaupt noch eine Zunge hatte, so schweigsam, wie sie gewesen war. Doch jetzt sprach sie – und zwar direkt zu seiner Gefährtin. Er drehte den Kopf und sah Draka an. Sie stand starr hinter ihm, die Hand um ihre Kette gekrallt.
„Kulshuri kazshar“, sagte sie. Da begriff Durotan. Seine Partnerin und die bis dato stumme Sklavin unterhielten sich in der Sprache der Draenei! Als er sich wieder Garona zuwandte, empfand er neuen Respekt vor ihr.