Nokrar stieß ein wortloses Brüllen aus und schlug seinem Häuptling ins Gesicht, einmal, zweimal …
Durotan schob seine Hände zwischen Nokrars schwingenden Fäusten hindurch nach oben. Er nahm den Kiefer des anderen Orcs zwischen die Handflächen und riss seine Arme dann mit solcher Wucht nach oben, dass Nokrars Kopf nach hinten gerissen wurde und er von ihm herunterrollte.
Einen Herzschlag später war Durotan wieder auf den Beinen. Doch dasselbe galt auch für Nokrar. Die beiden fletschten die Zähne und stürmten aufeinander zu. Ihre Körper glänzten vor Schweiß und Blut, als sie aufeinanderprallten, und Durotan spürte, wie eine Rippe brach. Nokrars Aufschrei nach zu urteilen, hatte auch er sich verletzt. Mit einem tiefen Grollen ließ sich der Häuptling der Frostwölfe vom Blutdurst übermannen. Er war herausgefordert worden, und jetzt hieß es siegen oder sterben.
Lok’tar ogar.
Anstatt sich zurückzuziehen oder einen Angriff zu versuchen, beugte er die Knie und schlang die Arme um die Mitte seines Widersachers.
„Gyaaahhh!“ Mit einem Brüllen hob er den anderen Orc vom Boden und schleuderte ihn von sich. Nokrar landete hart auf dem Boden, und er hatte Mühe, sich wieder in die Höhe zu stemmen.
Doch da war Durotan bereits wieder bei ihm. Er ballte die Finger zur Faust und legte alle Kraft in einen Schlag gegen Nokrars kantigen, knochigen Kiefer. Der Kiefer gab unter der Wucht des Hiebes nach, und ein Hauer brach ab, sodass er nun an einem Hautfetzen herabhing. Durotan holte zum nächsten Schlag aus. Nokrar war verwundet, kaum noch bei Bewusstsein, sein Gesicht blutüberströmt. Ein weiterer Schlag würde sein Schicksal besiegeln und das Mak’gora beenden.
Er hielt inne.
Nokrars Augen starrten durch eine rote Maske zu ihm hoch.
Durotan war herausgefordert worden. Er hatte keine Wahl gehabt. Die Gesetze, uralt und stets befolgt, waren eindeutig: Das Ehrenduell ging auf Leben und Tod.
Langsam öffnete er die Faust und lehnte sich nach hinten, dann stand er wankend auf. Seine mächtige Brust hob sich, als er Luft in seine Lungen saugte, um seinen Kopf zu klären. Er hörte das Murmeln ringsum, sah die Menge aber nicht an. Sein Blick blieb auf Nokrar gerichtet.
Sein Widersacher atmete noch immer, aber er war geschlagen. Er versuchte sich aufzurichten, aber es gelang ihm nicht, und schließlich ließ er sich zurück auf den Boden fallen und wartete auf den tödlichen Schlag.
Doch der Schlag kam nicht. Durotan wandte sich zu den schweigenden Zuschauern um und öffnete den Mund.
„Wir haben schreckliches Leid erfahren“, sagte er. „Erst die langen Winter und kurzen Sommer. Die Herden wurden kleiner und krank. Aber wir haben überlebt. Dann weinte der Altvaterberg einen Fluss aus feurigem Blut, und unsere angestammte Heimat wurde zerstört. Aber wir haben überlebt. Wir sahen uns mit giftigen Seen, verwelkten Bäumen und verdorrtem Gras konfrontiert, wir hatten keinen Schutz und keine Nahrung. Wir haben jene begraben, die diesen Mühen nicht gewachsen waren, und wir trauern noch immer um sie. Diese Welt ist voller Herausforderungen, an denen wir unseren Mut beweisen können, an denen wir demonstrieren können, dass wir unseren Platz in dieser Welt verdient haben. Diese Herausforderungen sollten uns stärker machen – nicht dazu führen, dass wir einander an die Kehle gehen.
Wir sind nur noch wenige, und unsere Zahl schwindet weiter. Ich kämpfe, um euch anzuführen, um euch zu beschützen, um euch am Leben zu halten. Durch meine Hand soll der Liste der toten Frostwölfe kein weiterer Name hinzugefügt werden. Meine Frau ist schwanger – momentan als Einzige im Klan. Nokrar ist selbst Vater. Nizka, Shaksa und unsere anderen Kinder sind die Zukunft der Frostwölfe, und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um für sie da zu sein. Wir werden kämpfen, ja – um sie und den Rest des Klans zu schützen. Um Beute zu erlegen und Nahrung zu erlangen, um der Verwüstung durch die Elemente zu begegnen. Doch einander zu bekämpfen ist eine schreckliche Torheit, und ich weigere mich, daran teilzuhaben.
Ich bin Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh. Ich führe diesen Klan, und ich werde keine Herausforderung unbeantwortet lassen. Aber ich werde niemanden töten, der mir entgegentritt. Also: Möchte noch jemand gegen mich kämpfen?“
Seine Augen wanderten über die Gesichter, die er schon sein ganzes Leben kannte. Einige von ihnen wirkten wütend, andere erleichtert. Drakas Augen leuchteten vor Stolz, und sie nickte ihm unmerklich zu. Seine Mutter, die Wissenshüterin, wirkte hingegen bekümmert, aber sie schwieg.
Niemand ging auf seine Herausforderung ein.
Durotan wollte die Hand ausstrecken und Nokrar aufhelfen, aber er wusste, eine solche Geste würde nicht gut aufgenommen werden. Nokrar würde brauchen, was noch von seinem Stolz übrig war, und Durotan konnte es sich nicht leisten, dass man ihn für schwach hielt – oder eher: für noch schwächer, als er in den Augen vieler bereits erschien.
Also ging er stattdessen zurück zu seiner Hütte, ohne noch einmal zurückzublicken. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, krümmte er sich vor Schmerzen und sank auf seinen Stuhl. Draka und Geyah kamen herein, bald darauf gefolgt von Orgrim, der Drek’Thar an seinem Arm führte.
„Du hast gut gekämpft, mein Herz“, sagte Draka, während sie nach dem irdenen Topf griff und ihn mit Wasser aus einer Schüssel füllte. „Und es war eine gute Entscheidung, Nokrar am Leben zu lassen. Seine Wunden und sein angeschlagenes Ego werden ihm zu schaffen machen, aber er wird überleben und den Klan stärken.“ Sie entzündete ein Feuer und platzierte den Topf darüber.
Geyah starrte erst Draka an, dann ihren Sohn. „Du hättest mir sagen sollen, was du vorhast“, schnappte sie. „Unsere Traditionen sind nach den Ereignissen der letzten Jahre bereits geschwächt – nein, zersetzt und beinahe völlig zerstört. Und jetzt greifst du an, was noch von ihnen übrig ist!“
„Mutter“, entgegnete Durotan müde. „Ich wusste selbst nicht, was ich tun würde. Sieh dich um. Nokrar ist ein starker Krieger und wird es auch wieder sein, nachdem seine Wunden verheilt sind. Ich habe gesehen, wie er allein einen Grollhuf erlegt hat. Mit ihm haben wir einen Jäger mehr, der Fleisch nach Hause bringen kann. Soll ich den Klan nur um der Traditionen willen weiter schwächen?“
„Nur um …“
„Geyah“, unterbrach Drek’Thar sie. „Die Geister besuchen mich nicht mehr oft – aber nach allem, was ich sagen kann, sind sie einverstanden mit der Entscheidung deines Sohnes.“ Er seufzte. „Es gibt schon genug Zerstörung und Tod rings um uns. Der Geist des Lebens drängt uns, dieses Feuer nicht weiter zu nähren. Es gibt da … eine Verbindung, die ich noch nicht ganz verstehe. Vertrau einfach darauf, dass Durotan das Richtige getan hat.“
„Ich war selten so froh, nur der Stellvertreter des Häuptlings zu sein“, brummte Orgrim.
Durotan lachte, obwohl er dabei vor Schmerzen zusammenzuckte. „Selten? Ansonsten wärst du wohl lieber der Häuptling, hm?“
Orgrim wollte seinem Freund einen spielerischen Stoß verpassen, aber dann erinnerte er sich an Durotans Verletzungen und hielt inne. „Zumindest würdest du versuchen, nicht allzu fett und faul zu werden, wenn du wüsstest, dass ich nur auf den richtigen Moment für eine Herausforderung warte.“ Er grinste, dann fügte er in ernsterem Tonfall hinzu: „Was du getan hast … wäre mir nie eingefallen. Und doch glaube ich, dass es eine gute Entscheidung war.“
Draka hatte eine Handvoll Kräuter in das kochende Wasser geworfen. Jetzt fischte sie sie wieder heraus, wrang sie aus und legte sie zum Trocknen beiseite. Anschließend tauchte sie Stoffstreifen in das mit Kräuteressenzen angereicherte Wasser und säuberte damit die Wunden ihres Gefährten. Später würde sie noch Sternenblumen in den Topf geben und Durotan davon trinken lassen, damit er tief schlafen könnte. Die Kräuter selbst zermahlte sie mit Tierfett zu einer Salbe für seine Blessuren. Drek’Thar würde ebenfalls seinen Teil beitragen, indem er die Geister bat, die Genesung des Häuptlings zu beschleunigen, und ein anderer Schamane würde dieselbe Gnade für Nokrar erbitten.