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me mich, in erster Person zu sprechen – schreitet also unser Held, der ja auch irgendeine Beschäftigung hat, hinter den übrigen her. Doch ein eigentümlich zufriedenes Gefühl spricht aus seinem bleichen, gleichsam zerknitterten Gesicht. Ganz entzückt blickt er auf die Abendröte, die langsam auf dem kalten Petersburger Himmel erlischt. Wenn ich sage: er blickt, so lüge ich; denn er blickt nicht, sondern er schaut, ohne sich irgendwelche Rechenschaft abzugeben und gleichsam ermüdet und mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt, so daß er seine Umgebung nur ganz flüchtig und beinahe unbewußt mit einem Blicke streifen kann. Er ist zufrieden, denn er ist bis morgen von seiner ihm lästigen Tätigkeit erlöst, und freut sich wie ein Schulknabe, den man aus dem Klassenzimmer herausgelassen hat und der nun an seine Lieblingsspiele und Streiche gehen darf. Schauen Sie ihn nur von der Seite an, Nastenka: Sie werden bemerken, daß dieses Freudegefühl bereits wohltuend auf seine kranken Nerven und seine krankhaft erregte Phantasie gewirkt hat. Nun ist er plötzlich nachdenklich geworden. An was mag er denken? Sie glauben, an sein Mittagessen? Oder an den bevorstehenden Abend? Was betrachtet er plötzlich so aufmerksam? Jenen soliden Herrn dort, der sich soeben so graziös vor der Dame verneigt hat, die an ihm in glänzender mit schnellfüßigen Pferden bespannten Equipage vorübergefahren ist? Nein, Nastenka! Was geht ihn dieser Tand an! Er ist jetzt an seinem eigenen Leben reich; er ist ganz plötzlich reich geworden, und der Abschiedsstrahl der untergehenden Sonne hat ihn nicht wirkungslos gestreift, sondern in seinem erwärmten Herzen einen ganzen Schwarm von Eindrücken geweckt. Nun bemerkt er kaum die Straße, auf der ihn sonst jede Kleinigkeit fesseln kann. Schon hat ›Göttin Phantasie‹ (Sie kennen wohl dies Bild, Nastenka, aus Shukowskij’s Gedichten?) auf ihrem Webstuhle goldene Kettenfäden gespannt und vor seinen Blicken Gebilde eines phantastisch märchenhaften Lebens zu weben begonnen; wer weiß: vielleicht hat sie ihn auch schon mit ihrer launischen Hand vom vorzüglichen Granittrottoir, auf dem er nach Hause geht, in den siebenten kristallenen Himmel gehoben? Versuchen Sie ihn nur anzusprechen und zu fragen, wo er sich jetzt befinde und durch welche Straßen er gegangen sei. Er wird sich darauf sicher nicht besinnen können; er wird vor Ärger erröten und des Anstandes wegen etwas vorlügen. Darum fährt er auch so zusammen, schreit beinah auf und sieht sich erschrocken um, als ihn eben eine alte Dame von sehr ehrwürdigem Aussehen mitten auf dem Bürgersteige anhält und sich nach dem Wege, den sie verloren hat, erkundigt. Geärgert und mit gerunzelter Stirn setzt er seinen Weg fort und merkt kaum, daß mancher Passant bei seinem Anblick lächelt und sich nach ihm sogar umsieht, und daß irgendein kleines Mädchen ihm scheu ausweicht und laut auflacht, als es mit Erstaunen sein breites beschauliches Lächeln und seine seltsamen Handbewegungen sieht. Und schon hat diese selbe Göttin Phantasie in ihrem launischen Fluge die alte Dame, die neugierigen Passanten, das lachende Mädchen und die Bauern, die auf ihren auf der Fontanka liegenden Kähnen (nehmen wir an, daß unser Held gerade an der Fontanka vorübergeht) ihr Abendbrot verzehren, erhascht und spielend in ihr Gewebe eingefügt, wie die Spinne die Fliege einfängt; schon hat der Sonderling, mit diesen neuen Fund bereichert, seine gemütliche Behausung erreicht, sich an den Tisch gesetzt und längst seine Mahlzeit verzehrt; er kommt erst dann zur Besinnung, als seine ewig versonnene und traurige Köchin Matrjona den Tisch abgeräumt und ihm seine Pfeife gebracht hat: er kommt zu sich und stellt mit Erstaunen fest, daß er bereits gegessen hat, ohne auch nur das Mindeste davon gemerkt zu haben. Im Zimmer ist es inzwischen dunkel geworden, in seiner Seele ist es öde und traurig; ein ganzes Reich von Träumen ist rings um ihn spurlos und lautlos zusammengestürzt, ist wie ein Traum zerronnen und er kann sich nicht einmal besinnen, was er geträumt hat. Doch ein seltsam dunkles Gefühl, das seine Brust schmerzhaft erbeben macht, irgendein neuer Wunsch kitzelt und reizt schon wieder seine Phantasie und ruft unmerklich einen neuen Schwarm neuer Gesichte herbei. In seinem kleinen Zimmer ist es still; Einsamkeit und süßes Nichtstun umschmeicheln seine Phantasie; sie entzündet sich allmählich und beginnt ganz langsam zu brodeln wie das Wasser in der Kaffeekanne der alten Matrjona, die sorglos nebenan in der Küche waltet und ihren Köchinnenkaffee kocht. Schon beginnt die Phantasie stoßweise zu sprudeln, schon ist das Buch, das unser Träumer zwecklos und unbesehen vom Bücherbrett genommen hat, und in dem er kaum bis zur dritten Seite gekommen ist, seiner Hand entfallen. Seine Phantasie ist neu gestimmt und gereizt, und vor seinen Blicken ist schon wieder eine neue Welt, ein neues bezauberndes Leben in strahlend herrlicher Perspektive entstanden. Ein neuer Traum – ein neues Glück! Eine neue Dosis raffinierten, süßen Giftes! Was ist ihm unser wirkliches Leben! Seinem durchaus nicht ungetrübten Blick erscheint unser Leben, Nastenka, so träge, langsam und welk; erscheinen wir alle mit unserm Schicksal unzufrieden und von der Last des Lebens bedrückt! Es ist auch wirklich so: erscheint denn beim ersten Blick nicht alles zwischen uns so kalt, mürrisch und düster?! Die Armen! denkt sich der Träumer. Es ist auch kein Wunder, daß er so denkt! Beachten Sie doch nur die zauberhaften Gestalten und Erscheinungen, die sich vor seinen Blicken so launisch, so uferlos und in solcher Fülle zu einem feenhaften, beseelten Bilde formen, in dessen Vordergrunde als Hauptgestalt natürlich unser Träumer in eigener Person steht. Sie wollen vielleicht wissen, was er träumt? Wozu soll man danach fragen? Er träumt von allem... vom Schicksal eines anfangs verkannten und später lorbeerbekränzten Dichters; von seiner Freundschaft mit E. Th. A. Hoffmann, der Bartholomäusnacht, Diane Vernon, einer Heldentat bei der Eroberung von Kasan durch Iwan den Grausamen, von Klara Mowbray, Minna und Brenda und anderen Heldinnen Walter Scott’scher Romane, vom Prälatenkonzil und Johannes Huß, von der Totenauferstehung im ›Robert der Teufel‹ (erinnern Sie sich an diese Musik? Sie ist wie ein Hauch vom Friedhof!), von der Schlacht an der Beresina, von der Vorlesung eines Gedichts im Salon der Gräfin Woronzow-Daschkow, von Danton, Kleopatra ei suoi amanti, von Puschkins ›Häuschen in der Kolomnavorstadt‹, von seinem eigenen Winkel, in dem an seiner Seite ein entzückendes Mädchen sitzt, das ihm an einem Winterabend mit offenem Mündchen und großen Augen zuhört, – genau so wie Sie mir jetzt zuhören, mein kleiner Engel... Nein, Nastenka, was kann ihm, dem wollüstigen Faulenzer, das Leben bedeuten, nach dem wir uns beide so sehnen? Er ist überzeugt, daß dieses Leben armselig und blaß ist, und er ahnt gar nicht, daß auch ihm einmal die traurige Stunde schlägt, wo er für einen einzigen Tag dieses armseligen Lebens alle seine phantastischen Jahre hingeben würde; und nicht einmal für irgendeinen ausgewählt glücklichen Tag: denn er wird in jener Stunde der Trauer, Reue und Wehmut nicht einmal wählen wollen. Doch solange ihm diese drohende Stunde noch nicht geschlagen hat, wünscht er sich nichts, denn er ist über alle Wünsche erhaben, denn er besitzt alles, ist übersättigt, ist selbst der Gestalter seines Lebens, das er sich jeden Augenblick nach einer neuen Laune neu schafft. Und wie leicht, wie natürlich entsteht so eine märchenhaft phantastische Welt! Als ob sie greifbar und nicht gespenstisch wäre! Er ist manchmal wirklich zu glauben geneigt, daß dieses Leben nicht ein Spiel der Phantasie, nicht eine Luftspiegelung, nicht eine trügerische Einbildung, sondern etwas wirklich Seiendes, Echtes, Reales sei! Warum, sagen Sie es mir, Nastenka, warum stockt in solchen Augenblicken sein Atem? Durch welche Zauberkraft, durch welchen unerforschlichen Machtspruch beginnen plötzlich seine Pulse zu fliegen, seine Augen zu tränen und seine blassen, tränenfeuchten Wangen zu brennen, während sein ganzes Wesen von einem alles überwältigenden Lustgefühl erfüllt wird? Warum vergehen für ihn lange schlaflose Nächte wie ein Augenblick in unerschöpflicher Freude und Lust, und erst wenn die aufgehende Sonne ihren ersten rosigen Strahl in sein Fenster wirft, und sein unfreundliches Zimmer sich mit dem ungewissen, phantastischen Licht des Petersburger Morgens füllt, – warum sinkt unser Träumer erst dann ermüdet und matt auf sein Bett und schläft ein, während sein krankhaft erschütterter Geist in Wonne erstirbt und sein Herz vor süßem Schmerz vergeht? Ja, Nastenka, man kann sich leicht täuschen, die Leidenschaft, die sein Herz erfüllt, für echt, und seine körperlosen Traumbilder für lebendig und greifbar halten! Und so vollkommen ist die Täuschung! Da ist zum Beispiel in seinem Herzen die Liebe mit allen ihren grenzenlosen Wonnen und verzehrenden Qualen aufgegangen... Sie brauchen ihn nur anzuschauen und Sie werden daran glauben! Würden Sie es, liebe Nastenka, bei diesem Anblick für möglich halten, daß er diejenige, die er in seiner rasenden Phantasie so sehr liebt, niemals gekannt hat? Hat er sie denn nur in seinen verführerischen Träumen gesehen, und war diese Leidenschaft nur ein Traum? Sind sie denn wirklich nicht Hand in Hand durch so viele Jahre nebeneinander gegangen, zu zweien, die ganze übrige Welt vergessend und die eigene Welt und das eigene Leben mit dem Leben des Freundes vereinend? War es denn nicht sie, die in der späten Stunde des Abschieds, weinend und sich in Seelenqualen verzehrend, an seiner Brust lag, ohne auf den Sturm, der unter dem düsteren Himmel raste, und auf den Wind, der die Tränentropfen von ihren schwarzen Wimpern wegtrug, zu achten? War denn das Ganze nur ein Traum: der traurige verwilderte Park mit den moosüberwucherten Wegen, auf denen sie so oft zu zweien lustwandelten, das Herz voller Hoffnung und Liebe so ›tiefer und süßer Liebe‹? Und das alte, noch vom Urgroßvater erbaute Haus, in dem sie so lange Zeit einsam und traurig an der Seite eines ewig schweigsamen, alten und mürrischen Gatten lebte, der die beiden, die so scheu wie Kinder waren und ihre Liebe furchtsam voreinander verbargen, immerwährend ängstigte? Wie quälten sie sich, wie fürchteten sie sich, wie rein und keusch war ihre Liebe und wie schlecht – das versteht sich doch von selbst, Nastenka! – wie schlecht waren die Menschen! Und, mein Gott, war es denn nicht sie, die er später, fern vom heimatlichen Gestade, unter einem fernen, südlichen, glühenden Himmel wiedergesehen, in der wunderbar ewigen Stadt, im Glanze des Balles, bei schmetternder Musik in einem strahlend erhellten Palazzo (es muß unbedingt ein Palazzo sein), auf einem von Rosen und Myrten umrankten Balkone, wo sie, nachdem sie ihn wiedererkannt, ihre Maske hastig von sich warf und mit den Worten: ›Nun bin ich frei!‹ ihm zuflog; wo sie sich mit einem Aufschrei von Wonne in die Arme fielen und in einem Augenblick alles vergaßen: ihren Kummer, die Trennung, alle Pein, das düstere Haus, den alten Gatten, den düsteren Park in der fernen Heimat und die Bank, auf der sie sich mit dem letzten, leidenschaftlichen Abschiedskuß aus seinen vor Verzweiflung erstarrten Armen gerissen hatte... Geben Sie es doch zu, Nastenka, daß man erzittern, zusammenfahren und wie ein Schuljunge, der soeben im Nachbarsgarten einen Apfel gestohlen hat und ihn hastig in der Tasche verbirgt, erröten muß, wenn nun plötzlich irgendein baumlanger, lustiger Bursche als ungebetener Gast an der Schwelle erscheint und, als ob nichts geschehen wäre, herausplatzt: ›Weißt du, mein Lieber? Ich komme eben aus Pawlowsk!‹ Mein Gott! Der alte Graf ist tot, ein unaussprechliches Glück bricht an, – und dem Kerl fällt es ein, aus Pawlowsk zu kommen!«