«Essen ist hier etwas Heiliges», sagte Martin Hellicar, der Kampagnenmanager von BirdLife Cyprus, einer Organisation, die weniger provokant auftritt als das CABS. «Ich glaube nicht, dass jemals einer verurteilt wird, der solche Sachen isst.»
Hellicar und ich verbrachten einen Tag damit, die Gegenden im Südosten der Insel zu besichtigen, wo die Jagd mit Netzen betrieben wird. In jedem kleinen Olivenhain kann man Vogelnetze aufstellen, aber die wirklich großen Fangplätze liegen in Akazienplantagen. Diese Bäume sind auf Zypern nicht heimisch, und ihre Bewässerung lohnt sich nur, wenn man dort Vögel fangen will. Überall gibt es solche Akazienpflanzungen. Zwischen den Baumreihen werden lange Streifen aus billigem Teppichboden ausgelegt und Hunderte Meter hauchfeiner, beinahe unsichtbarer Netze gespannt, befestigt an Stangen, die meist in mit Beton ausgegossenen alten Autoreifen verankert sind; in der Nacht werden dann sehr laut Aufnahmen von Vogelstimmen abgespielt, um Zugvögel anzulocken, damit sie sich in den dichtbelaubten Akazien niederlassen. Im Morgengrauen werfen die Wilderer Händevoll kleine Kieselsteine in die Baumkronen — die Vögel stieben auf und verheddern sich in den Netzen. (Ein verräterischer Hinweis auf solche Plätze sind Steinhaufen am Wegrand.) Da die Wilderer dem Aberglauben anhängen, freigelassene Vögel verdürben den Fangplatz, dreht man allen unverkäuflichen Tieren den Hals um, oder man lässt sie in den Netzen, wo sie verenden. Ein verkäuflicher Vogel bringt bis zu fünf Euro ein, und an einem gut ausgestatteten Platz kann man an einem Tag tausend Vögel oder mehr fangen.
Am schlimmsten ist die Situation auf dem Gelände der britischen Militärbasis Dhekelia. Die Briten mögen die größten Vogelfreunde Europas sein, doch der Stützpunkt, der seine ausgedehnten Schießplätze an zypriotische Bauern verpachtet, befindet sich in einer diplomatisch heiklen Position; als das Militär einmal entschlossen gegen Wilderer vorging, zerstörten aufgebrachte Bauern zweiundzwanzig britische Hoheitszeichen. Außerhalb des Stützpunkts wird die Durchsetzung durch logistische und politische Hindernisse erschwert. Wilderer stellen nächtliche Wachtposten auf und errichten auf den jeweiligen Grundstücken kleine Hütten, denn die Mitarbeiter des Cyprus Game Fund müssen erst einen Durchsuchungsbeschluss vorweisen, bevor sie einen solchen «Wohnsitz» inspizieren dürfen, und bis sie den beibringen, können die Wilderer ihre Netze abbauen und die Lautsprecheranlagen verstecken. Die Wilderei in großem Stil wird mittlerweile von Kriminellen betrieben, und so fürchten die Vogelschützer auch gewaltsame Angriffe. «Das größte Problem ist, dass niemand, nicht mal ein Politiker, aufsteht und sagt, dass es falsch ist, Ambelopoulia zu essen», erklärte mir Pantelis Hadjigerou, der Direktor des Game Fund. Tatsächlich hat ein populärer Politiker aus Nordzypern einen Rekord aufgestellt, indem er vierundfünfzig Ambelopoulia auf einen Sitz verspeiste.
«Am besten wäre es, wenn eine bekannte Persönlichkeit öffentlich sagen würde: ‹Ich esse keine Ambelopoulia, denn das ist falsch›», sagte Clairie Papazoglou, die Direktorin von BirdLife Cyprus. «Aber es gibt hier eine Art Pakt, und der besagt, dass alles, was ein schlechtes Licht auf uns werfen könnte, unter uns bleiben muss.»
«Vor dem Eintritt in die EU», bemerkte Hellicar, «sagten die Wilderer: ‹Wir halten uns einfach eine Weile zurück.› Heute ist die Wilderei für die Achtzehn-, Neunzehnjährigen ein patriotischer Akt, mit dem sie ihre Männlichkeit beweisen. Das Wildern ist ein Symbol des Widerstands gegen den Big Brother EU.»
Was für mich nach Orwell klang, war in Wirklichkeit zypriotische Innenpolitik. Seit der türkischen Besetzung des nördlichen Teils der Insel im Jahr 1974 hat der griechisch dominierte Süden einen enormen Aufschwung genommen, doch in den Inlandsnachrichten ist das Zypernproblem noch immer das alles beherrschende Thema. «Alles andere wird unter den Teppich gekehrt, alles andere ist unwichtig», erklärte mir der zypriotische Sozialanthropologe Yiannis Papadakis. «Sie sagen: ‹Wie könnt ihr es wagen, uns für etwas so Unwichtiges wie Vögel vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen? Wir bringen die Türkei vor Gericht!› Es gab nie eine ernsthafte Debatte über den Beitritt zur EU — der wurde lediglich als ein Mittel zur Lösung der Zypernfrage betrachtet.»
Das wichtigste Instrument der Europäischen Union ist die bahnbrechende Vogelschutzrichtlinie, die 1979 in Kraft trat und die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle europäischen Vogelarten zu schützen und ausreichende Lebensräume für sie zu erhalten. Seit seinem Beitritt zur EU ist Zypern wegen Verstößen gegen diese Richtlinie wiederholt von der Europäischen Kommission verwarnt worden, doch bislang wurden weder Urteile gesprochen noch Strafen verhängt; solange die Umweltschutzgesetze eines Mitgliedstaats auf dem Papier mit der Richtlinie konformgehen, greift die Kommission nicht gern in nationale Befugnisse ein.
Zyperns nominell kommunistische Regierungspartei tritt entschieden für private Erschließungen ein. Das Tourismusministerium unterstützt Pläne für den Bau von vierzehn neuen Golfanlagen mit dazugehörigen Wohnkomplexen (bisher gibt es auf der Insel drei Golfplätze), obwohl das Land nur über sehr begrenzte Wasserressourcen verfügt. Jeder, dessen Grundstück über eine Straße zu erreichen ist, darf darauf bauen, infolgedessen ist das Land bemerkenswert zersiedelt. Ich suchte die vier bedeutendsten Naturschutzgebiete im Südosten der Insel auf, die theoretisch besonderen Schutz durch EU-Richtlinien genießen. Sie befanden sich allesamt in einem deprimierenden Zustand. Der große Trockensee bei Paralimni etwa, in dessen Nähe ich mit den CABS-Leuten auf Patrouille ging, ist eine lärmende, staubige Mulde, in der man einen illegalen Schießplatz und einen ebenso illegalen Motocross-Parcours eingerichtet hat. Überall liegen Patronenhülsen, Bauschutt, ausrangierte Haushaltsgeräte und Sperrmüll herum.
Und trotzdem kommen noch immer Vögel nach Zypern; sie haben keine andere Wahl. Auf dem Rückweg in die Stadt, als der Himmel nicht mehr blendend weiß war, hielten die Männer der CABS-Patrouille an, um eine Kappenammer zu bewundern, einen prächtigen kleinen Vogel in Gold, Schwarz und Kastanienbraun, der auf den obersten Zweigen eines Strauches saß und sang. Für einen Augenblick löste sich unsere Anspannung, und wir waren nur noch Vogelbeobachter, die ihre Begeisterung in den jeweiligen Muttersprachen zum Ausdruck brachten. «Ah, che bello!»
«Fantastic!»
«Unglaublich schön!»
Zum Abschluss des Tages wollte Rutigliano an einem Obstgarten halten, wo ein CABS-Mitarbeiter im Jahr zuvor von Vogelfängern zusammengeschlagen worden war. Als wir in unserem Mietwagen von der Straße auf den Feldweg abbogen, kam uns ein roter Pick-up entgegen, dessen Fahrer die Geste des Halsabschneidens machte. Er fuhr auf die Hauptstraße, und zwei Insassen beugten sich aus den Fenstern und zeigten uns den gereckten Mittelfinger.
Heyd, der nüchterne Deutsche, wollte gleich umkehren, doch die anderen wandten ein, es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass die Männer in nächster Zeit zurückkommen würden. Wir fuhren bis zu dem Obstgarten, in dem wir vier Halsbandschnäpper und einen Waldlaubsänger fanden, der nicht mehr fliegen konnte; Rutigliano reichte ihn mir, damit ich ihn in meinem Rucksack verstaute. Als wir alle Leimruten unschädlich gemacht hatten, drängte Heyd abermals und deutlich nervöser zum Aufbruch, doch es gab einen anderen, etwas weiter entfernten Hain, den sich die beiden Italiener noch ansehen wollten. «Ich hab ein gutes Gefühl», sagte Rutigliano.