Das größte verbliebene Problem in diesem Jahr war die Loyalität. Es stellte sich mir besonders, als ich das Kapitel über Gary Lambert schrieb, der eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit mit meinem ältesten Bruder aufwies. Da gab es zum Beispiel Garys Projekt: ein Album mit seinen liebsten Familienfotos. Mein Bruder war auch mit einem solchen Projekt beschäftigt. Und weil mein Bruder das sensibelste und gefühlvollste Mitglied der Familie ist, wusste ich nicht, wie ich Details aus seinem Leben verwenden konnte, ohne ihn damit zu verletzen und unsere gute Beziehung zu gefährden. Ich fürchtete seinen Zorn, fühlte mich schuldig, weil ich über Dinge aus dem wirklichen Leben lachte, die er gar nicht komisch fand, kam mir illoyal vor, weil ich private Familienangelegenheiten in einer Erzählung öffentlich machte, und fand es rundum moralisch dubios, mir das Privatleben eines Nicht-Schriftstellers für meine professionellen Zwecke anzueignen. Aus all solchen Gründen hatte mir «autobiographische» Literatur in der Vergangenheit widerstrebt. Und doch waren diese Details zu bedeutsam, um sie nicht zu verwenden, und ich hatte ja vor meiner Familie auch nie verborgen, dass ich als Schriftsteller ihnen, egal was sie sagten, gut zuhörte. So drehte und wendete ich das Problem und diskutierte es schließlich mit einer klugen älteren Freundin. Zu meiner Überraschung wurde sie wütend auf mich und hielt mir meinen Narzissmus vor. Was sie sagte, ähnelte der Botschaft meiner Mutter an unserem letzten gemeinsamen Nachmittag. Sie sagte: «Glaubst du, das Leben deines Bruders dreht sich um dich? Glaubst du nicht, dass er ein eigenes erwachsenes Leben führt, voll von Themen, die wichtiger sind als du? Glaubst du, deine Macht ist so groß, dass etwas, was du in einem Roman schreibst, ihm schaden kann?»
Alle Loyalität, ob im Schreiben oder anderswo, ist erst dann bedeutsam, wenn sie auf die Probe gestellt wird. Sich selbst als Schriftsteller treu zu sein ist am schwersten, wenn man gerade erst angefangen hat — wenn einem das Schriftstellerdasein noch nicht genug öffentliche Reaktion eingetragen hat, um die eigene Loyalität ihm gegenüber zu rechtfertigen. Der Wert eines guten Verhältnisses zu Freunden und Familie ist offensichtlich und konkret; der Wert, über sie zu schreiben, ist immer noch größtenteils spekulativ. Es kommt jedoch ein Punkt, an dem sich die Werte angleichen. Und dann lautet die Frage: Will ich es riskieren, einen Menschen, den ich liebe, zu verlieren, um weiter der Schriftsteller werden zu können, der ich sein muss? Lange Zeit, während meiner Ehe, war meine Antwort darauf: nein. Selbst heute gibt es Beziehungen, die für mich so wichtig sind, dass es mir eher Schmerzen bereitet, um sie herum statt durch sie hindurch zu schreiben. Doch ich habe gelernt, im Risiko autobiographischen Schreibens eine Chance zu sehen, nicht nur für das Schreiben, sondern auch für die Beziehungen: Man kann nämlich seinem Bruder oder seiner Mutter oder seinem besten Freund tatsächlich einen Gefallen erweisen, indem man ihnen die Gelegenheit gibt, sich der Tatsache, dass über sie geschrieben wird, gewachsen zu zeigen — weil man darauf vertraut, dass sie einen als Ganzen lieben, den Schriftsteller-Teil eingeschlossen. Was, wie sich herausstellt, zählt, ist, dass man so wahrhaftig wie möglich schreibt. Wenn man den Menschen, über dessen Stoff man schreibt, wirklich liebt, muss das Schreiben diese Liebe widerspiegeln. Das Risiko, dass dieser Mensch die Liebe nicht erkennen kann und dass die Beziehung darunter leiden wird, bleibt bestehen, doch hat man getan, was alle Schriftsteller ab einem gewissen Punkt schließlich tun müssen, nämlich sich selbst treu sein.
Glücklicherweise kann ich, um zum Schluss zu kommen, berichten, dass mein Bruder und ich uns besser verstehen als je zuvor. Bevor ich ihm ein Leseexemplar der Korrekturen schickte, habe ich ihn am Telefon vorgewarnt, er würde das Buch vielleicht hassen, vielleicht sogar mich hassen. Seine Antwort, für die ich ihm immer dankbar sein werde, war: «Hass ist keine Option.» Als ich das nächste Mal von ihm hörte, er hatte das Buch inzwischen gelesen, begrüßte er mich mit den Worten: «Hallo, Jon. Hier ist dein Bruder — Gary.» Wenn er sich heute mit Freunden über das Buch unterhält, macht er kein Geheimnis aus der Ähnlichkeit. Er hat sein eigenes Leben, seine eigenen Prüfungen und Erfüllungen, und einen Bruder zu haben, der Schriftsteller ist, ist nur ein Teil seiner eigenen Geschichte. Wir lieben einander sehr.
(Übersetzt von Wieland Freund)
«I just called to say I love you»
Eines der großen Ärgernisse der modernen Technik ist, dass ich, wenn eine Neuerung mein Leben spürbar verschlechtert hat und immer neue Wege findet, es zu verkomplizieren, nur noch ein Jahr oder auch zwei darüber klagen darf, bevor die Coolness-Bestimmer mir erzählen: Wirst schon drüber wegkommen, Opa — so ist das Leben heute eben.
Ich bin nicht gegen technische Entwicklungen. Digitale Mailbox und Anruferkennung, die gemeinsam die Tyrannei des klingelnden Telefons gebrochen haben, sind für mich zwei der großen Erfindungen des späten 20. Jahrhunderts. Und wie lieb ist mir mein BlackBerry, mit dem ich lange, unwillkommene E-Mails in ein paar atemlosen telegraphischen Zeilen erledigen kann, für die der Empfänger gleichwohl dankbar sein muss, weil ich sie mit den Daumen gedrückt habe. Und meine lärmblockenden Kopfhörer mit ihrem frequenzversetzten weißen Rauschen, das selbst das resoluteste Dröhnen des Fernsehers beim Nachbarn überdeckt: großartig. Und die wunderbare Welt der DVD-Technik und der hochauflösenden Bildschirme, die mir schon so viele klebrige Kinoböden, so viele ungehörig flüsternde Kinogänger, so viele ungehemmt mampfende Popcorn-Knurpser erspart hat.
Für mich bedeutet Privatsphäre nicht, mein Privatleben vor anderen zu verbergen, sondern mir das Eindringen des Privatlebens anderer zu ersparen. Daher bin ich, obwohl meine Lieblings-Gadgets die Privatsphäre aktiv steigern, für so ziemlich jede Entwicklung aufgeschlossen, die mich nicht dazu zwingt, mich mit ihr zu befassen. Wenn Sie jeden Tag eine Stunde damit verbringen, an Ihrem Facebook-Profil zu basteln, wenn Sie keinen Unterschied darin sehen, Jane Austen auf einem Kindle oder als gedrucktes Buch zu lesen, oder wenn Sie Grand Theft Auto IV für das größte Gesamtkunstwerk seit Wagner halten, freue ich mich für Sie, solange Sie es für sich behalten. Was mir viel mehr Probleme bereitet, sind die Beleidigungen, die nicht aufhören wollen, die Verletzungen vergangener Jahre, die uns immer weiter quälen. Beispielsweise das Airport-TV: Ungefähr einer von zehn Reisenden verfolgt es aufmerksam (es sei denn, es gibt Football), für die übrigen neun dagegen ist es eine handfeste Belästigung. Jahr um Jahr, Flughafen um Flughafen, eine kleine, aber offenbar permanente Schmälerung der Lebensqualität des Durchschnittsreisenden. Oder, ein weiteres Beispiel, die geplante Veralterung richtig guter Software und ihre Ersetzung durch schlechte. Ich kann noch immer nicht akzeptieren, dass die beste jemals geschriebene Textverarbeitung, WordPerfect 5.0 für DOS, auf keinem heute erhältlichen Computer mehr läuft. Ja, klar, theoretisch kann man es noch in dem kleinen DOS-emulierenden Fenster auf Windows laufen lassen, aber diese Emulation ist so winzig und hat eine so grobe Graphik, dass es wie eine bewusste Beleidigung Microsofts all derjenigen ist, die nicht mit einem funktionsüberladenen Moloch arbeiten wollen. WordPerfect 5.0 war für Desktop-Publishing hoffnungslos primitiv, für Schreibende aber, die damit nur schreiben wollten, unübertroffen. Elegant, störungsfrei, von der Größe her zu vernachlässigen, wurde es von dem fettleibigen, aufdringlichen, monopolistischen, ständig abstürzenden Word verdrängt. Hätte ich in meinem Büroschrank nicht alte 386er und 486er PCs gesammelt, könnte ich jetzt gar nicht mehr mit WordPerfect schreiben. Inzwischen bin ich schon bei meinem letzten Reservecomputer angelangt! Und doch sind manche so dreist, mir zu verübeln, dass ich ihnen meine Texte nicht in einem für das allmächtige Word lesbaren Format schicke. Wir leben jetzt halt in einer Word-Welt, Opa. Wirst drüber wegkommen, entspann dich.