Doch das alles ist ja bloß lästig. Die technische Entwicklung aber, die dauerhaften Schaden von wirklich gesellschaftlicher Bedeutung angerichtet hat — und über die man nicht klagen kann, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben, obwohl der Schaden andauert — , ist das Handy.
Noch vor zehn Jahren war New York (wo ich lebe) reich an gemeinschaftlich erhaltenen öffentlichen Orten, an denen die Bürger der Gemeinschaft Respekt bezeigten, indem sie ihr banales Schlafzimmerleben für sich behielten. Vor zehn Jahren hatte das Gequassel die Welt noch nicht vollständig erobert. Es war noch möglich, den Gebrauch eines Nokia als Protzerei oder Affektiertheit Wohlhabender zu sehen. Oder, wohlwollender, als ein Gebrechen, eine Behinderung oder Krücke. Schließlich kam es dann Ende der neunziger Jahre in ganz New York zu einem nahtlosen Übergang von der Nikotin- zur Handykultur. Steckte am einen Tag noch eine Schachtel Marlboro in der Hemdtasche, war es am nächsten ein Motorola. Hielt die schutzlose, weil unbegleitete hübsche Frau am einen Tag noch Hände, Mund und Aufmerksamkeit mit einer Zigarette beschäftigt, führte sie am folgenden ein sehr wichtiges Gespräch mit einer Person, die nicht man selbst war. Scharten sich auf dem Spielplatz am einen Tag noch alle um den ersten Jungen mit einer Schachtel Lucky Strike, umlagerten sie am folgenden den ersten mit einem Farbdisplay. Zückten die Reisenden am einen Tag noch ihr Feuerzeug, sobald sie dem Flugzeug entstiegen waren, drückten sie am nächsten die Kurzwahltasten. Aus der Eine-Schachtel-am-Tag-Sucht wurden Mobilfunk-Rechnungen von hundert Dollar im Monat. Aus Rauchverschmutzung wurde Lärmverschmutzung. Das Ärgernis selbst veränderte sich über Nacht, doch das Leiden der selbstbeherrschten Mehrheit unter einer zwanghaften Minderheit blieb in Restaurants, Flughäfen und anderen öffentlichen Räumen auf unheimliche Weise konstant. Im Jahr 1998, ich hatte kurz zuvor das Rauchen aufgegeben, beobachtete ich in der U-Bahn Mitreisende, die nervös ihr Handy auf- und zuklappten oder an der zitzengleichen Antenne knabberten, die damals alle Handys hatten, oder ihr Gerät einfach still wie eine Mutterhand umfassten, und dann empfand ich fast so etwas wie Mitleid mit ihnen. Damals war für mich die Frage noch offen, wie weit der Trend gehen würde: ob New York wirklich zu einer Stadt aus Telefonjunkies werden wollte, die in abstoßenden kleinen Wolken aus Privatleben auf dem Gehweg schlafwandelten, oder ob die Vorstellung eines zurückhaltenderen öffentlichen Ichs sich doch irgendwie behaupten konnte.
Selbstredend fand ein Kampf nicht statt. Das Mobiltelefon war keine jener modernen Entwicklungen wie Ritalin oder übergroße Regenschirme, gegen die sich nennenswerte Nischen zivilen Widerstands ermutigend halten. Sein Triumph kam rasch und war total. Seine Missbräuche wurden in Essays, Kolumnen und allen möglichen Leserbriefen beklagt und bemeckert und, als die Missbräuche nur noch schlimmer zu werden schienen, noch bissiger beklagt und bemeckert, aber das war’s dann auch. Die Klagen waren registriert, es folgten ein paar kleine symbolische Anpassungen (der «ruhige Wagen» in Amtrak-Zügen, diskrete Schildchen in Restaurants und Fitnesscentern, die eindringlich um Zurückhaltung flehten), aber danach stand es der Mobiltechnologie frei, ihr Zerstörungswerk ohne Furcht vor weiterer Kritik fortzuführen, weil weitere Kritik ungeil und uncool gewesen wäre. Opa.
Aber nur weil uns das Problem jetzt vertraut ist, heißt das noch lange nicht, dass Autofahrer, die hinter einem Kerl festhängen, der auf der Überholspur in sein Handy plappert und dabei genau auf Höhe des Fahrzeugs rechts von ihm bleibt, nicht vor Wut kochen. Trotzdem: Alles in unserer Kommerzkultur sagt dem plappernden Fahrer, dass er im Recht ist, und uns anderen, dass wir im Unrecht sind — dass wir es nicht schaffen, das supergünstige Angebot von Freiheit, Mobilität und unbegrenzten Minuten zu nutzen. Die Kommerzkultur sagt uns, dass wir nur deshalb auf den plappernden Fahrer sauer sind, weil wir nicht so viel Spaß haben wie er. Was ist denn los mit uns? Warum können wir nicht ein wenig locker werden und selber zum Handy mit unserem Freunde-und-Familien-Tarif greifen und selber mehr Spaß haben, da auf der Überholspur?
Gesellschaftlich Retardierte verhalten sich nicht plötzlich erwachsener, wenn Gesellschaftskritiker unter Gruppendruck zum Schweigen gebracht werden. Sie werden nur unverschämter. Eine gegenwärtig sich verschlimmernde Landplage ist der Käufer, der während des Bezahlvorgangs an der Kasse einfach weitertelefoniert. Die typische Kombination in meinem Viertel in Manhattan ist eine junge Weiße, die gerade an irgendeinem teuren College ihr Examen gemacht hat, und eine Schwarze oder Hispanierin aus der Nachbarschaft, ungefähr im selben Alter, aber weniger begünstigt. Natürlich ist die Erwartung, dass die Kassiererin sich einem widmet oder sich darüber freut, wie gewissenhaft man gewillt ist, sich ihr zu widmen, eine liberale Eitelkeit. Angesichts ihrer monotonen und schlecht bezahlten Arbeit darf sie einen durchaus mal gelangweilt oder gleichgültig behandeln; schlimmstenfalls ist sie dann unprofessionell. Das entbindet einen jedoch nicht von der moralischen Pflicht, sie als Person zur Kenntnis zu nehmen. Und auch wenn es stimmt, dass es manche Kassiererinnen offenbar nicht stört, ignoriert zu werden, sind doch auffallend viele sichtlich irritiert, verärgert oder traurig, wenn eine Kundin sich nicht einmal für zwei Sekunden von ihrem Telefon losreißen kann, um sich ihr zuzuwenden. Selbstredend ist es der Übeltäterin, so wie dem plappernden Fahrer auf dem Highway, überhaupt nicht bewusst, dass jemand ihretwegen sauer ist. Meiner Erfahrung nach bezahlt sie, je länger die Schlange, ihren Einkauf von 1,98 Dollar desto wahrscheinlicher mit der Kreditkarte. Und zwar nicht mit einer Kreditkarte mit einem tap-and-go-Mikrochip, bei dem die Karte kurz auf ein Lesegerät gehalten wird, sondern mit einer Kreditkarte der Sorte Auf-die-ausgedruckte-Quittung-warten-und-dann-(erst-dann)-mit-zombieartiger-Umständlichkeit-das-Handy-vom-einen-Ohr-zum-anderen-verlagern-und-das-Handy-zwischen-Ohr-und-Schulter-klemmen-und-dabei-die-Quittung-unterschreiben-und-dabei-weiter-Zweifel-äußern-ob-ihr-wirklich-danach-ist-sich-am-Abend-mit-diesem-Morgan-Stanley-Typen-Zachary-in-der-Weinbar-Etats-Unis-zu-treffen.
Sicher, eine positive gesellschaftliche Konsequenz aus diesem sich verschlimmernden Benehmen gibt es. Die abstrakte Vorstellung zivilisierter öffentlicher Räume als rarer Ressourcen, die zu verteidigen sich lohnt, mag praktisch tot sein, dennoch findet sich Trost in den flüchtigen Ad-hoc-Mikrogemeinschaften Mitleidender, die schlechtes Benehmen hervorbringt. Durch das Autofenster sehen, wie ein anderer Fahrer vor Wut kocht, oder dem Blick einer angesäuerten Kassiererin begegnen und mit ihr gemeinsam den Kopf schütteln: Da kommt man sich etwas weniger allein vor. Weswegen von allen schlimmer werdenden Varianten schlechten Handy-Benehmens diejenige mich am meisten ärgert, die vermeintlich kein Opfer hat und deshalb niemanden sonst zu ärgern scheint. Ich spreche von der Angewohnheit, vor zehn Jahren noch ungebräuchlich, heute allgegenwärtig, Handygespräche mit einem gekrähten «LIEB DICH!» zu beenden. Oder, noch bedrückender und schriller: «ICH LIEBE DICH!» Da möchte ich dann am liebsten nach China auswandern, wo ich die Sprache nicht verstehe.