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Ich kicherte, was mir einen argwöhnischen Blick Kotjas einbrachte.

Schon komisch.

Hundertprozentig traute ich ihm doch nicht über den Weg.

Und er mir auch nicht.

»Fertig«, verkündete Kotja und trat einen Schritt zur Seite. In der Luft loderte in weißem Feuer ein Schriftzug.

Ich machte einen Schritt nach vorn, sinnierte kurz darüber nach, was für eine perfekte Gelegenheit sich Kotja hier böte, wollte er mich tatsächlich umbringen. Ich könnte in einem Hochofen landen, am Boden des Baikal-Sees oder in den Tiefen des Uralgebirges, und das wäre es dann gewesen...

Im letzten Moment dachte ich daran, den Mund aufzumachen und einzuatmen, genau wie in einem Flugzeug beim Start. Wenn gleich Wasser oder glühendes Metall über mich hereinbräche, würde der offene Mund freilich auch nichts mehr ändern ...

Aber ich hatte Kotja zu Unrecht der Heimtücke verdächtigt.

Tief inhalierte ich die frische Moskauer Luft, hustete und wurde mir mit einem Mal bewusst, dass Wasser nur unwesentlich schlechter gewesen wäre. Wie können wir diese Luft einatmen? Unser Leben lang?

Meine Augen fingen an zu tränen, allerdings nicht von der Luft, sondern weil mir das grelle Licht einer Laterne vor einem Tor direkt ins Gesicht schlug. Um mich herum war es noch dunkel, was mich nicht wunderte, schließlich war es in Moskau drei oder vier Uhr Stunden früher als in Tibet. Früher Morgen, später Herbst ...

Es schneite, winzige Krümelflocken, fast wie Grieß. Es war nicht kalt, es war schweinekalt. Ich stand vor einem vergitterten Tor, an dem ein Schild hing: Frauenklinik Nr. 9. In dem kleinen Häuschen des Wachmannes schimmerte Licht, ein paar Schritte vor dem Tor hüpfte ein junger Mann herum, der nicht gerade wettergemäß gekleidet war. Genau wie ich.

Als er sich umdrehte und mich erblickte, zeigte er sich in keiner Weise überrascht. »Die Frau?«, fragte er herzlich.

Ich linste auf das Schild. »Der Mann«, brabbelte ich völlig deplatziert. »Also, ich meine, ich bin der Mann. Und da ... genau, da drin ist meine Frau.«

Der andere Mann hätte momentan vermutlich jeden Unsinn akzeptiert.

»Das Erste?«

»Hmm«, brummte ich vage.

»Bei mir ist es der Zweite. Oder die Zweite.« Er kicherte. »Hör bloß nicht auf Ärzte. Letztes Mal haben wir eine Tochter erwartet und dann ... Ist dir kalt?«

Als ich unbestimmt mit den Schultern zuckte, drückte er mir eine kleine Metallflasche mit Schraubverschluss in die Hand. »Trink das.«

Noch immer umnebelt, trank ich gehorsam.

Der Kognak gluckerte mir schwer und heiß die Kehle runter. Mist! Schon am frühen Morgen zu saufen!

»Rauchst du?«

»Hmm.«

»Hier.«

Die Zigarette aus einer Schachtel starker, als Lizenzprodukt vertriebener Marlboro nahm ich mir bereits aus eigenem Entschluss. Schließlich musste ich den grauenvollen Geschmack im Mund irgendwie übertünchen. Bisher hatte ich noch nie am frühen Morgen Kognak getrunken - und ich hatte gut daran getan!

»Eine Tochter ist gut, zwei Söhne sind auch in Ordnung«, sinnierte der Mann. »Weißt du, ich würde auch bei der Geburt dabei sein, ehrlich, ich hab da keine Angst vor! Aber meine Frau will das nicht. Nachher liebst du mich nicht mehr, sagt sie, das hat’s alles schon gegeben ... Ist ein kluges Köpfchen, meine Frau, hat schon vorher alles über die Geburt gelesen ...«

Er trank einen weiteren Schluck Kognak. »Die Weiber sind doch alle blöd!«, fuhr er völlig unvermittelt fort. »Ich würde sie nicht mehr lieben! Was soll der Scheiß denn?«

Nachdem ich ein paar kräftige Züge an der Zigarette genommen hatte, sah ich mich verstohlen um. Also: Ich musste am Zaun der Frauenklinik vorbei ...

»Viel Glück«, wünschte ich. »Ich geh jetzt wohl. Ich hab ... die haben gesagt, es würde noch dauern. Ich soll mal nach dem Mittagessen wiederkommen, sagen sie.«

»Haben sie mir auch gesagt«, räumte der Mann ein. »Aber ich warte noch ein bisschen und rauch eine. Dann guck ich noch mal rein und hör, wie’s steht. Vielleicht haben sie sich ja geirrt? Ärzten darfst du einfach nichts glauben ...«

Zum Abschied schüttelte ich die mir entgegengestreckte Hand, dann ging ich an der Umzäunung entlang und ließ den mitteilungsbedürftigen Mann weiter auf neue Verlautbarungen seitens der unzuverlässigen Ärzte warten.

Seltsam, aber diese Begegnung hatte mich aufgeheitert. Lächelnd setzte ich meinen Weg fort.

Die Menschen ahnten nicht das Geringste von Funktionalen. Sie lebten ihr Leben und freuten sich daran. Arbeiteten und bekamen Kinder, fuhren in den Urlaub und sparten für ein neues Auto, grillten auf der Datscha Schaschliks und spielten mit Freunden Préférence. Funktionale rangierten für sie in der gleichen Kategorie wie Spiderman oder Transformer. Und es ist längst nicht ausgemacht, dass sie ihr Leben gegen unsere Wunder eintauschen würden ...

Obwohclass="underline" nein. Sie würden wohl schon tauschen. Denn es lockt eine außergewöhnliche Prämie, ein sehr, sehr langes Leben. Dieser Reiz dürfte alles andere überwiegen.

Wenn es doch bloß ein »Sowohl-als-auch« gäbe. Sowohl die Fähigkeiten als auch die Freiheit ...

Aber wollten Kotja und ich nicht genau das erreichen?

Nachdenklich rauchte ich meine Zigarette zu Ende und schnippte sie in eine Pfütze, da ich weit und breit keinen Papierkorb erspähte. Warum ein Mensch, wenn er seine Umwelt sowieso vermüllt, seine Kippe oder seine zerknüllte Chipstüte wohl immer zu anderem Müll schmeißt? Im Zweifelsfall in eine Pfütze oder eine Grube, an den Straßenrand oder in einen Graben. Und warum ziehen diejenigen, die ihren Müll mitten auf der Fahrbahn oder dem Gehsteig abladen, dann die allgemeine Empörung auf sich?

Vermutlich wissen tief in ihrem Herzen auch die schlimmsten Dreckspatzen, dass es kein schöner Zug ist, alles vollzumüllen.

»Und wo ist hier ein Turm?«, grummelte ich, während ich mich im Licht der wenigen Laternen umsah.

Ein Wohnhaus, eine Trafostation, noch ein Haus ...

Halt!

Das war gar kein Haus.

Das schmale, zweistöckige Gebäude mit einer Tür und drei Fenstern pro Etage war alles andere als ein Wohnhaus.

Das war eine weitere Variante eines Zöllnerturms!

Natürlich hätte mich das nach dem Haus von Wassilissa in Charkow nicht weiter verwundern müssen. Und eigentlich war es ja eher meine Behausung gewesen, die sich selbst in Moskau ungewöhnlich stilvoll ausgenommen hatte, ein richtiger Turm, wenn auch ein Wasserspeicher.

Aber bei Wassilissas Haus hatte ich den Geruch einer anderen Welt wahrgenommen. Ich hatte ihre Funktion gespürt. Außerdem hatte es von ihren Schmiedearbeiten gewimmelt.

Aber hier? Ein Haus wie jedes andere auch.

Nur reichlich heruntergekommen, ein proletarisches Haus, wie es so schön heißt.

Mit schmutzigen Gardinen vor den Fenstern, verkümmerten Blumen in den Töpfen und einer schiefen Antenne auf dem Dach.

Die Haustür war aus Holz, alt, mit Eisen beschlagen und vor kurzem gestrichen worden. Die billige braune Farbe blätterte jedoch bereits ab, darunter trat die alte blaue Farbe zum Vorschein. Ein primitives, mechanisches Zahlenschloss. Übrigens stand die Tür sowieso offen.

Aus dem Innern drang eine kreischende und erhobene Stimme an mein Ohr. »Das ist, nebenbei bemerkt, bereits der zweite Fall innerhalb von einem Jahr! Seit drei Stunden komme ich nicht ins Netz. Und Sie haben sich ewig geweigert, sich das überhaupt anzusehen!«

»Wozu wollen Sie überhaupt mitten in der Nacht ins Inter...«, setzte jemand mit müder Stimme an, um gleich darauf wieder zu verstummen.

Vorsichtig betrat ich das Haus.

Es stank nach Katzen. Leben dürften hier allerdings keine, bestimmt war das eine Imitation, eine Mimikry. Über ausgetretene Stufen gelangte ich zu dem kleinen Absatz im Hochparterre. Hier gab es nur eine einzige Tür. Auch sie stand halb offen. Durch das zerschlissene Kunstleder quoll Schaumstoff. An einer Schraube baumelte die Nummer: 1. Drinnen brannte Licht.