Nachdem ich in die Wohnung gelinst hatte, trat ich leise ein.
Unmittelbar hinter der Tür lag das Zimmer, einen Flur gab es nicht. Ein riesiges, vollgestopftes, aber erstaunlich sauberes Zimmer - das Realität gewordene Paradies eines computerverrückten Teenagers.
In einer Ecke stand ein großes, ungemachtes Bett. Die Kissen hätten mal aufgeschüttelt, die Decke glattgestrichen werden können. Offenbar fiel der Wohnungsinhaber nur in dieses Bett und versank sofort in einen Todesschlaf.
Die andere Ecke nahm ein Herd mit allen technischen Finessen ein, der nicht benutzt wurde. Auf der funkelnden Glaskeramikfläche thronte eine einfache Mikrowelle mit offener Tür. Direkt auf dem Glasträger des Apparats lag ein Viertel einer Pizza.
Die dritte Ecke gehörte einem soliden Bücherschrank. Knallige, zerlesene Science-Fiction-Romane gaben sich ein Stelldichein mit irgendwelchen technischen Nachschlagewerken, alles Taschenbuchausgaben, und seriösen dunkelgrünen Bänden akademischen Anstrichs.
Die vierte Ecke stellte das eigentliche Zentrum des Raums dar.
Hier war ein gigantischer Computertisch untergebracht. Der Tower war so groß, dass bequem ein passabler Server hineingepasst hätte. Zwei anständige Bildschirme. Drucker und Scanner. Eine Kaffeemaschine, bei der ich den Eindruck hatte, sie sei über ein USB-Kabel an den Rechner angeschlossen, wobei ich es dann aber vorzog, von einem Irrturm meinerseits auszugehen. Die Heizplatte unter der Kaffeetasse war jedoch mit Sicherheit an den Computer angeschlossen. Solchen Kram kannte ich, den verkauften wir zu Hunderten als Geschenk zu Silvester oder zum Tag des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar, schließlich gab es kein hübscheres Präsent, das eine junge Systemadminstratorin ihrem jungen Systemadminstrator machen konnte.
All das fand auf dem Tisch problemlos und unaufdringlich Platz. Wie ich schon sagte, das hier war die wahre Schaltzentrale des Zimmers, selbst wenn es in der Ecke lag.
Vor dem Tisch befand sich ein Sessel.
Und zwar einer, wie er im Buche stand. Etwas verriet mir, dass diese gewaltige Konstruktion aus dunklem Leder, montiert auf neckische Rollen, nicht in jedem x-beliebigen Geschäft zu erwerben war. Dergleichen fertigte man gegen enormes Geld nach Maß in Italien an. Das war nicht schlicht ein Sitzmöbel, auf dem man den Hintern platzierte, sondern etwas wie ein Kokon mit überhoher Lehne, nach vorn gewölbten Ohrenpolstern und extrem breiten Armstützen. Man braucht sich nur mal ein Photo von Rockefeller oder Churchill an ihrem Schreibtisch anzuschauen und weiß, was ich meine.
In diesem Meisterstück der Möbelkunst saß indes weder der Halbwüchsige, der zum Zimmer gepasst hätte, noch der dickbäuchige Chef, der dem Sessel alle Ehre gemacht hätte. In dem Ledermonstrum hockte - gleich einer vertrockneten Nuss in der Schale - ein spindeldürrer, eisgrauer Greis mit in den Knien durchhängenden Hosen und einem schmuddeligen, kurzärmeligen Hemd.
Vor ihm standen zwei Männer in meinem Alter und in Arbeitskleidung, auf deren Rücken die Aufschrift Korbin-Telekom prangte. Zwischen dem Alten und den beiden Leuten vom Provider lag auf einer Ecke des Tischs irgendein Schriftstück.
»Ich werde die Quittung nicht unterschreiben«, verkündete der Alte mit offener Genugtuung. »Ich habe mit Ihnen einen Vertrag abgeschlossen, der mir Ihren Service rund um die Uhr garantiert. Aber ich saß drei Stunden ohne Netz da!«
»Zwei Stunden und zwanzig Minuten ...«
»Völlig einerlei! Sie brauchten zu lange für die Anfahrt und für die Reparatur!«
»Herr Zebrikow, Sie haben ein altes Haus, die Leitungen sind alle morsch ...«
»Dieses Haus wird euch noch alle überstehen, junge Herren!«, versicherte der Alte amüsiert. Da hat der verknöcherte Streithahn vermutlich recht, schoss es mir durch den Kopf. Das Haus wird noch sehr, sehr lange stehen...
In dem Moment streifte mich der Blick des Alten. Aufgrund meines Alters hielt er mich anscheinend ebenfalls für einen Techniker.
»Und was haben Sie dazu zu sagen?«, blaffte mich der Giftzahn barsch an.
»Ich bin aus einem anderen Grund hier, Nikolenka«, antwortete ich, wobei ich innerlich zusammenzuckte, als ich den alten Kläffer mit dieser vertraulichen Namensform ansprach. »Ich muss nur durch eine Tür rein, durch die andere wieder raus.«
Der Alte blinzelte.
Anschließend unterschrieb er wortlos die Quittung.
Einer der beiden jungen Männer schnappte sie sich, wobei er einen Seufzer der Erleichterung nicht zu unterdrücken vermochte, und beide Techniker marschierten zur Tür. Ich zwinkerte den beiden Geschundenen zu. Daraufhin verdrehte der Typ, der die unterschriebene Quittung an sich genommen hatte, leidgeprüft die Augen.
Verständlich. Es gibt nichts Schlimmeres, als in der Serviceabteilung zu hocken. Wenn du dann noch an so einen alten Querkopf gerätst, siehst du kein Land mehr.
Hinter den beiden Männern schlug die Tür zu, ihre Schritte klapperten über die Treppe. Allem Anschein nach hatten sie es eilig, von hier wegzukommen.
»Irgendwie erinnere ich mich nicht.« Mit zusammengekniffenen Augen fixierte der Alte mich. »Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Nein.«
»Aha ...« Er sah mich unverwandt an, kam aber einfach zu keinem Schluss. »Bist du ein ... Funktional?«
»Ein ehemaliges.« Ich hielt es für besser, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Verstehe. Hattest du es satt, an der Leine zu gehen?« Herr Zebrikow blinzelte mir zu. »Ach ja ... die Jugend. Glaubst du etwa, für mich war es immer ein Zuckerschlecken? Im Jahr 1866? Als Mensch, der nicht mehr ganz jung und vom Leben geschüttelt, aber trotzdem aufgeschlossen war und dann eine beschämend kurze Leine erhielt? Von 3007 Metern!«
»Oh ...«, stieß ich aus.
»Bis zur Mauer des Kremls kam ich, rein nicht«, führte der Alte so beleidigt aus, als sei er daran gewöhnt, tagtäglich in den Kreml hineinzuspazieren, um dort seine Arbeit zu verrichten. Oder war er vielleicht tatsächlich daran gewöhnt? Wer weiß, wer er einmal gewesen war ... »Gut, ich war nicht mehr ganz jung, aber ich bin von Natur aus umtriebig und freiheitsliebend. Glaubst du, das war leicht für mich? Aber ich habe die Zähne zusammengebissen! Gewartet, bis es Telephon, Radio und Fernsehen gab. Und jetzt sieht sowieso alles anders aus. Die ganze Welt erreiche ich jetzt, was kümmert mich da die Leine?«
Geduldig wartete ich, bis er zu Ende gekichert hatte. Unwillkürlich lugte ich über die Schulter des Alten und schaute auf den Bildschirm.
Es war schon komisch.
Soweit ich sehen konnte, war auf beiden Schirmen ein und derselbe Blog aufgerufen, ein elektronisches Tagebuch, diese populäre Beschäftigung junger Nichtsnutze und alter Müßiggänger.
Auf dem einen Bildschirm trat der Alte unter dem Namen einer Frau auf, in dem anderen unter dem eines Mannes. Beide Figuren stritten miteinander, was das Zeug hielt. Eine Unmenge - vermutlich realer - Menschen kommentierte das Geschehen.
»Das sind so meine Späßchen ...« Der Alte war meinem Blick gefolgt. »Missbilligen Sie das? Glauben Sie, ich würde meine Zeit verplempern?«
»Das geht mich ja nichts an«, antwortete ich.
»Vernünftige Einstellung! Sie müssen wissen, junger Mann, von der Höhe der hinter mich gebrachten Jahre aus sehe ich klar und deutlich, dass jede menschliche Tat klein und nichtig ist. Liebe, Hass, Freundschaft, Glauben, Verachtung, Eifersucht, Wut, Patriotismus und Begeisterung - all unsere Gefühle verbrennen und verwandeln sich in nichts. Und ist es denn wirklich von Belang, ob man tatsächlich liebt ...« Er stockte, bevor er präzisierte: »Angesichts meines Alters muss ich die fleischliche Komponente der Liebe ausschließen ... oder ob man die Liebe nur imitiert, sich und seine Umwelt zwingt zu glauben, man sei von überirdischen Leidenschaften erfasst?«
»Ich weiß nicht. Aber ich glaube, es ist doch wichtig.«
»Sie sind noch jung«, urteilte der Alte mit väterlicher Wärme in der Stimme. »Hach, wie jung Sie noch sind ... Aber während des Kriegs gegen Bonaparte, da war ich sogar noch jünger als Sie, das reinste Kind, dabei ungeheuer hitzköpfig und draufgängerisch. Ich bin vom Gut meines Vaters direkt in den Krieg ausgebüchst und habe ein Jahr lang als Trommler gedient. Und ich hätte jeden auf der Stelle erschossen, der sich über meine Liebe, meinen Glauben oder meinen Patriotismus lustig gemacht hätte! Zum Glück haben sich die Zeiten jedoch geändert. Duelle sind heute außer Mode. Heutzutage ist ohnehin alles light. Liebe light, Glauben light, Patriotismus light. Ich will mich jedoch nicht beklagen! Es ist Sommer, die Sonne scheint, die Kinder rennen umher, die Vögel singen, Kriege und Epidemien gibt es nicht mehr. Alles geht seinen Gang! Alles wird immer besser in dieser besten aller Welten, wie schon der weise Voltaire gesagt hat ...«