»Es ist Winter«, bemerkte ich. »Und Nacht. Die Kinder schlafen, die Vögel sind in warme Länder gezogen. Aber Kriege und Epidemien gibt es anscheinend wirklich nicht. Dafür aber Terroristen und Aids.«
»Wohin wollen Sie?«, fragte der Alte scharf.
»Nach Orysaltan.«
»Das heißt Oryssultan, junger Mann. Das macht ...« Er runzelte die Stirn. »Ehrlich, ich weiß es nicht! Funktionale passieren gebührenfrei, aber Sie sind ein ehemaliges Funktional ... Ich berechne Ihnen den halben Preis.«
»Gut.«
»480 Rubel.«
Ich holte einen Fünfhunderter aus meiner Jacke und gab ihn ihm. »Sie brauchen mir nicht herauszugeben. Danke.«
»Und Sie brauchen mich nicht mit Trinkgeld zu beleidigen, ich bin nicht Ihr Lakai!«, erwiderte der Alte in strengem Ton. Aus einer Tischschublade kramte er eine Red-Bull-Dose voller Kleingeld hervor und händigte mir triumphierend vier Fünfer aus.
Die musste ich annehmen.
Danach erhob sich der Herr Nikolenka Zebrikow lustlos hinter seinem Tisch. In dem Namen »Nikolenka« schwang etwas entsetzlich Falsches mit, wie bei einem dieser Neureichen, die es sich einfallen lassen, auf altrussischen Adel zu machen. Dabei hatte er jedes Recht sowohl auf den nach heutigen Maßstäben süßlich klingenden Namen als auch auf sein Getue gegenüber den beiden Technikern. Wenn es denn stimmte, dass er von zu Hause ausgerissen war, um gegen Napoleon zu kämpfen ...
Und ich ... ich wunderte mich nicht mal mehr über diese Dinge! Woran man sich nicht alles gewöhnt!
»Folgen Sie mir«, sagte der Mann feierlich. »Wir müssen in den ersten Stock, in Wohnung Nr. 4 ...«
Wir gingen durch die Tür. In Zebrikows Schlepptau stapfte ich die schmutzige Treppe hoch. Im ersten Stock brannte eine schwache, schirmlose Glühbirne. Zwei Türen gingen hier ab, mit den Ziffern 3 und 4.
»Wohin geht’s durch Wohnung Nr. 3?«, erkundigte ich mich.
»Nach Antik.«
»Oh«, sagte ich mit verstehendem Gesichtsausdruck, »ein komischer Ort.«
»Eine zurückgebliebene, dämliche und primitive Welt! Wie kann man denn freiwillig auf den Fortschritt in Wissenschaft und Technik verzichten?«
»Und auch auf den gesellschaftlichen?«
»Gesellschaftlichen Fortschritt gibt es sowieso nicht, junger Mann.« Zebrikow schnaubte. »Nur mal dieses Beispieclass="underline" Im Jahre 1825 wollte ich nach Petersburg fahren, um eine bezaubernde junge Dame aufzusuchen und mit ihr den Almanach Nordische Blumen, die erste Ausgabe, zu diskutieren und mit Freunden einen draufmachen, so lange das Geld reichte ... Doch hier in Moskau, an der Manege, hatte sich eine Menge versammelt. Offiziere, die ich kenne. Blanke Säbel, alle drängen irgendwo hin ... Ich schreie ihnen zu: ›Was gafft ihr denn, Kanaillen?‹ Ich renne ihnen hinterher und versuche, sie zur Vernunft zu bringen ... Was dann weiter passiert ist? Das ist bekannt, oder? Irgendein Patentidiot hat bei der Vernehmung ausgesagt, ich hätte geschrien: ›Im Karree gegen die Kavallerie! ‹ Dem müssen die Ohren längst mit Haaren zugewachsen gewesen sein ... Doch egal, wie ich mich verteidigt habe, wie ich mich empört habe - ich war zusammen mit den Dekabristen dran. Ich wurde zum einfachen Soldat degradiert, habe im Kaukasus gegen die wilden Bergbewohner gekämpft ... So war das, mein junger Freund! Und jetzt sagen Sie mir, wodurch unterscheiden sich diese Ereignisse von vor fast zweihundert Jahren von den heutigen? Die Regierung ist dumm und bringt das Volk gegen sich auf, ehrgeizige Verschwörer scheren sich einen Dreck ums Volk, feige Wachposten beschuldigen jeden x-Beliebigen, nur um den eigenen Hintern zu retten, schnelle und ungerechte Prozesse, Willkür und Grausamkeiten im Kaukasus ... Und jetzt sagen Sie mir bitte, gibt es so etwas wie gesellschaftlichen Fortschritt, wie die Entwicklung der Gesellschaft - von einer schlechten zu einer guten, von einer grausamen zu einer humanen?«
Ich hüllte mich in Schweigen.
»Nein, nein und noch mal nein!«, stieß Zebrikow inbrünstig aus. »Deshalb bin ich mit meiner heutigen Situation zufrieden. Die Kette, an der ich hänge, erstickt mich nicht. Die Wunder der Technik, die weltweite Vernetzung, die erstaunlich freie Moral - in alldem sehe ich echte Erfolge des Menschengeschlechts. Aber nicht in den gesellschaftlichen Institutionen, die einzig und allein der Unterdrückung des Pöbels und der Selbstbeweihräucherung der herrschenden Klasse dienen.«
»Also läuft alles aufs Internet hinaus?«, fragte ich.
»Ja«, bestätigte Zebrikow in provokantem Ton. »Aufs Internet. Aufs Fernsehen. Aufs Telefon. Auf Computer. Darin zeigt sich die Größe des menschlichen Geistes! Und hinter dieser Tür liegt Veros! Herzlich willkommen!«
»Wie finde ich den Zöllner Andrjuscha?«, fragte ich.
»Ach, Sie wollen weiter zu unseren Tataren?« Zebrikow nickte. »Ich werde es Ihnen erklären.«
Er steckte die Hand in die Tasche, kramte eine Zeit lang darin herum und zog schließlich einen Schlüssel heraus. Einen uralten, massiven Schlüssel. Anscheinend hatte sich sein Zuhause nach und nach modernisiert, seine Mimikry an die Umwelt vollzogen, solche Kleinigkeiten wie einen Schlüssel dabei jedoch nicht verändert.
Oder konnten sich Schlüssel vielleicht nicht verändern? Er öffnete die Tür und streckte feierlich die Hand aus. »Sehen Sie!«
Licht ließ mich blinzeln, denn hier war der Morgen schon angebrochen. Der Turm (oder wie sah das Gebäude in jener Welt aus?) stand wie üblich isoliert, ringsum gab es kleine, nicht sehr hohe Bauten, die allem Anschein nach nicht zum Wohnen gedacht waren. Vielleicht Garagen (aber was sollte es auf Veros für Garagen geben?) oder kleine Scheunen. Die meisten von ihnen hatten etwa mannshohe Kuppeln und einen winzigen Zaun. Interessant ...
Zu meiner Freude stand auch dieser Turm auf einer kleinen Anhöhe und bot eine passable Aussicht. Die Stadt fing etwa in zweihundert Metern an. Eine absolut unbekannte Stadt, die Moskau in keiner Weise glich, mit zahllosen Türmen von vage vertrauten Konturen.
»Sind das Minarette?«, rief ich aus.
»Natürlich. Hier werden Sie unser Russland nicht finden, junger Mann. Hier sind nur Tataren und Finnen, Wjatitschen und Kriwitschen ... Moskowien, wenn wir es einmal so nennen wollen, nimmt nur einen kleinen Raum ein und ist größtenteils von Mohammedanern bewohnt. Glücklicherweise sind das jedoch nicht solche Heißsporne wie bei uns.« Der Alte schnaubte. »Sehen Sie da vorn die blaue Kuppel?«
»Ja.«
»Das ist der Tempel des Propheten Isa.«
»Christus der Heiland?«, erriet ich.
»Genau. Ein in der Stadt geachteter, schöner Ort. Gehen Sie zum Tempel, verlaufen können Sie sich dabei gar nicht. Dann stellen Sie sich vors Tor. Schauen Sie in Richtung zehn, elf Uhr. Sie werden ein höchst originelles Türmchen mit einer Uhr, einem Vogel und unten einem kleinen Laden sehen.«
Ich starrte Zebrikow an. Der unfreiwillige Held des Dekabristenaufstands schien etwas zu verbergen. Genauer, mir etwas vorzumachen. Irgendwas stimmte hier nicht.
»Ist es da ... gefährlich für mich?« Ich nickte in Richtung Stadt.