»Wenn Sie sich anständig aufführen, dann nicht. Es ist eine Stadt wie jede andere auch. Nicht besser und nicht schlechter als unser Moskau ... Ach ja! Brauchen Sie Devisen?«
»In kleiner Menge«, bestätigte ich. »Um etwas zu essen. Oder ein paar Andenken zu kaufen ...«
»Ja, ja, die Andenken ...« Der Alte wiegte ernst den Kopf. »Ich glaube, wenn Sie tausend Rubel wechseln, müsste das reichen. Das belastet Ihr Budget doch nicht zu sehr?«
Die Summe, die Kotja mir in die Jacke gesteckt hatte, überstieg kaum fünfzehn-, zwanzigtausend Rubel. Das war zwar nicht gerade wenig, aber auch nicht übermäßig viel.
Ich gab Nikolenka einen Tausender. Mit einem Mal krächzte der Alte, kratzte sich den Nacken - und ging langsam die Treppe hinunter, sein Angebot eindeutig bereuend. Ich wartete geduldig auf seine Rückkehr und erhielt einige blau-grüne Scheine sowie eine Handvoll kleiner silbrig glänzender Münzen.
»Neunhundert und ein paar Zerquetschte in Tenge«, sagte Zebrikow. »Der Rubel und der Tenge stehen heute fast gleich.«
»Und was ist mit der Sprache?«
»Stimmt, Sie haben Ihre Fähigkeit des Zungenredens ja eingebüßt.« Der Alte kicherte. »Aber keine Sorge, man wird Sie schon verstehen! Und umgekehrt genauso! Schließlich passieren Sie eine Zollstelle.« Eine Windbö, die plötzlich von jenseits der Tür hereinwehte, ließ ihn erschaudern. »Was ist, wollen Sie jetzt gehen oder nicht?«
»Ich gehe«, antwortete ich rasch.
Neun
Jeder kennt die alte Weisheit: Kratze an einem Russen - und du entdeckst einen Tataren. Ausländer stellt dieser Satz immer wieder vor ein Rätsel. Was genau ist damit eigentlich gemeint? Dass die Russen extrem schmutzige Tataren sind? Oder schwingt da eine allegorische Bedeutung mit? Und wenn ja, welche?
Die Russen selbst - und auch die Tataren - vertraten schon immer die Ansicht, diese Formulierung unterstreiche, wie stark in Russland die Sprachen und Völker miteinander vermischt seien. Es stecke also nichts Abfälliges in diesem Satz, im Gegenteil, man könne stolz auf dieses Beispiel eines solcherart sprichwörtlichen Internationalismus sein.
In Wahrheit aber haben als Erste ausländische Gäste Russlands vom Ankratzen der Russen gesprochen, und zwar in einem Sinne, der sowohl für Russen als auch für Tataren äußerst kränkend ist: Unter dem dünnen Überzug der Zivilisation sind Wilde verborgen.
Glücklicherweise verstanden die für den feinen europäischen Sarkasmus unzureichend zivilisierten Russen und Tataren die Anspielung jedoch nicht. Lächelnd fingen sie an, den Satz zu wiederholen - was die Welt endgültig von ihrer Heimtücke überzeugte.
Im Moment befand ich mich jedoch in einer seltsamen Version Russlands, in der dieser Satz seine volle Existenzberechtigung hatte. In einem moslemischen Russland!
Sofort schalt ich mich innerlich selbst, denn das Wort »Russland« war hier gänzlich fehl am Platze. Das hier war nicht Russland. Und auch nicht England, Deutschland, die USA, China ... Dies war eine Welt von Stadtstaaten, von winzigen Territorien, die sich niemals zu einem einzigen Imperium zusammengeschlossen hatten. Irgendwie hatten die Funktionale diese Welt im Stadium des Feudalismus halten können, in jenen Zeiten, da Bekenntnisse wie »Wir sind Pskower« oder »Ich bin Kasaner« viel mehr besagten als »Ich bin Russe« oder »Ich bin Tatar«. All diese Völker waren durch Europa und Asien gezogen. Sie hatten sich fröhlich miteinander gepaart. Sie hatten gegeneinander gekämpft, sich vernichtet und sich aneinander angepasst. Sie hatten ihren Glauben und ihre Namen gewechselt ... Nur wenige wissen, dass zum Beispiel die Vorfahren der Tschetschenen Christen waren, die Tataren überhaupt keine Tataren, sondern Bulgaren sind, die ihren Namen von einem Stamm der Tataren übernommen haben, die noch unter Dschinghis Khan von den Mongolen ausgerottet worden waren. Die Geschichte ist eine unbeständige und flatterhafte Dame, wenn auch ihr Humor in erster Linie schwarz ist.
Insofern konnte ich meine erste und allzu griffige Assoziation - »Ich bin in ein Russland geraten, in dem Islamisten an der Macht sind« - getrost vergessen. Ich war einfach in der Stadt Oryssultan gelandet, die in einer Welt namens Veros an der Stelle von Moskau lag. An der Stelle von Stockholm lag hier Kimgim, an der Stelle von Kiew irgendein Ababagalamaga, an der Stelle von Paris etwas wie Dyr-Bul-Schtschyl. (Vermutlich hatte nur die polnische Stadt Szczecin, deren Schreibung jedes Volk mit Lateinschrift in Panik versetzt, ihren Namen beibehalten.)
Russen gab es hier nicht und hatte es nie gegeben. Genau wie Deutsche. Oder Tungusen, Korjaken, Tataren und Baschkiren. Das hier war eine andere Welt - die unserer teilweise ähnelte.
Mit dieser sicheren Überzeugung verließ ich die Zollstelle Nikolai Zebrikows. Als ich mich nach ihr umdrehte, schnaubte ich.
Von der Oryssultaner Seite sah sie aus wie ... wie ein Grabmal?
Ein Mausoleum?
Ja, am ehesten wohl wie ein Mausoleum. Nicht wie das kommunistische mit der Mumie Lenins, das sich am Roten Platz befindet, sondern wie ein typisches orientalisches Mausoleum. Ein hoher gewölbter Eingang, in dem sich eine kleine Tür aus geschnitztem Holz versteckt, eine Kuppel über einem kleinen, nur drei mal drei Meter großen Bau aus weißem Stein.
»Gute Güte«, murmelte ich. »Ich bin ja ... auf einem Friedhof!«
Damit gewannen die geheimnisvollen Bauten um mich herum sofort einen Sinn. Es waren Mausoleen. Grabstätten. Ein orientalischer Friedhof. Was sollte es auch sonst für einer sein in einer Stadt wie dieser?
Aber dieser Zebrikow war schon ein bemerkenswerter Mann, wenn seine Zollstelle auf einem Friedhof »gewachsen« war ...
Ich ging an den Mausoleen entlang und betrachtete die Inschriften über den Türen. Und sonderbar: Sie waren auf Russisch. Sogar russische Namen fanden sich häufig:
»Wassili, Pjotrs Sohn, ist hier bestattet. Möge die Gnade Allahs ihm freigiebig zuteil werden. Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Erbarmers. Jede Seele schmeckt den Tod, danach kehrt ihr zu uns zurück!«
Oder diese:
»He, Jünger des wahren Glaubens! Haltet zusammen! Dann erwartet euch Wohlergehen! Iskander, der Sohn Rawils, ruht hier.«
Einige Grabinschriften stellten mich vor ein Rätsel und brachten mir einmal mehr in Erinnerung, dass ich mich nicht auf der Erde befand. »Es gibt keinen Tengri außer Allah. Mohammed ist sein Sendbote!«
Die meisten Texte umgab reiche Schnitzerei in Form von Blumen oder geometrischen Motiven. Photographien gab es keine, aber das ist in unserer Welt bei Moslems auch nicht üblich.
Häufig erinnerten die Grabinschriften an philosophische oder religiöse Sprüche. »Nur mit Gottes Hilfe kann man dem Bösen entsagen und ein aufrechter Mensch werden! Nehmt mich Verachtungswürdigen als Beispiel und urteilt!«
Irgendwann stieß ich auf ein kleines Mausoleum (die Tür schien nur pro forma zu existieren), dessen Inschrift mich zusammenfahren ließ: »Im Paradiese bin ich. Eine Huri liebkost mich. Doch bin ich untröstlich und weine, denn sie ist mir keine Mutter, keine Mutter ist sie mir. Ein Engel kommt zu mir, gibt mir Spielzeug. Doch bin ich untröstlich und weine: Er ist mir kein Vater, das weiß ich.«
Alle Exotik, alles Seltsame und Fremde dieser Welt verlor unversehens seine Bedeutung. Ich stand vor einem Kindergrab, und woran auch immer die Eltern dieses Kindes geglaubt haben mochten - an Christus, Allah, Tengri oder an Darwins Evolutionstheorie -, ihr Schmerz war der altbekannte, der echte.
Ich erzitterte - und daran trug der Wind keine Schuld. Die Arme um die Schultern geschlungen, blieb ich eine Weile stehen und betrachtete das fremde Grab in dieser fremden Welt.
Nur dass diese fremde Welt aufgehört hatte, eine fremde zu sein. Aus einer glänzenden Ansichtskarte, aus einem Experiment der arkanischen Forscher, hatte sie sich in ein lebendiges Universum verwandelt - weil nur in einem lebendigen Universum Menschen sterben.