»Du brauchst nicht zu weinen«, flüsterte ich dem fremden Grab halblaut zu, dann ging ich leise weiter die steinernen Wege zwischen den Mausoleen entlang, achtete jedoch nicht mehr auf die Inschriften.
Ob Funktionale Kinder haben?
Plötzlich dachte ich ernsthaft über die Frage nach. Zahlen sie für ihre Fähigkeiten wirklich nur mit der eingeschränkten Bewegungsfreiheit? Mit ihrer Leine? Der Mensch findet sich im Grunde ja schnell mit seiner Unfreiheit ab, kann ihr sogar Vorteile abgewinnen, siehe den Dekabristen Nikolenka. Aber um seiner Liebsten willen, seiner Kinder willen, sind die Menschen imstande, jede Kette zu zerreißen und den sicheren Tod auf sich zu nehmen.
Sex war für die meisten Funktionale die liebste Unterhaltung.
Aber eine Familie hatten sie in der Regel nicht ...
Bereits am Ausgang des Friedhofs mit der mannshohen Umfriedung traf ich die ersten Bewohner Oryssultans. Zwei in die Jahre gekommene Männer, die wirklich ein wenig wie Tataren wirkten. Ihre Kleidung wies allerdings keinerlei ethnische Nuance auf: Schnürschuhe, Hosen, Mantel ...
Wir nickten uns kurz zu und gingen aneinander vorbei, ohne ein Wort zu wechseln.
Was wollte ich mehr? Die erste Prüfung war bestanden, mein Äußeres hatte die Einheimischen nicht in Erstaunen versetzt.
Der Tempel des Propheten Isa, der bei jedem Moskauer Geistlichen zornigen Protest ausgelöst hätte, kam einer Karikatur der Christus-Erlöser-Kirche gleich. Obwohl es direkte Beziehungen vermutlich nie gegeben hatte - die Geschichte unserer Welten unterschied sich zu stark voneinander, die Weggabelung musste tief im Dunkel der Jahrhunderte liegen. Zudem stand der Tempel an einem ganz anderen Platz, in der Nähe unserer Majakowski-Straße, natürlich nur, falls der Kreml hier an der gleichen Stelle lag wie bei uns. Im Grunde erwies er sich auch nur auf den ersten Blick als ähnlich. Die Kuppel stimmte weitgehend, das ja. Allerdings gab es zwei Minarette, die direkt aus ihr herauswuchsen, und mit blauen Kacheln verkleidete Pylone, wohingegen Kreuze fehlten. Dafür gab es jedoch reich geschmückte Zierschrift (erst hier begegnete mir übrigens die verschnörkelte arabische Schrift).
Die Stadt Oryssultan - oder auch Orysaltan - machte mich einigermaßen konfus. Kimgim wirkte zwar verspielt und verwunschen, dabei aber unzweifelhaft europäisch. Wie eine deutsche Stadt aus der Zeit E. T. A. Hofmanns oder eine englische aus der Zeit von Charles Dickens. Von Kimgim ging etwas Vertrautes und Angenehmes aus, das man aus Büchern oder Filmen kennt. Oryssultan hing dagegen völlig in der Luft. Es erinnerte weder an die laute und chaotische Türkei, wie ich unbewusst befürchtet hatte, noch an exotischere Varianten wie Ägypten oder die Vereinigten Emirate.
Einen Kreml gab es tatsächlich. Die Türme bekrönte jedoch kein Stern oder Adler, sondern ein goldenes Dreieck. Ehrlich gesagt hätte ich mich über den arabischen Halbmond oder den jüdischen Davidstern mehr gefreut - denn das hätte ich einzuordnen gewusst. Aber ein Dreieck? Sollte das eine Freimaurerpyramide sein? Bloß auf den Kopf gestellt? Das Symbol der Dreieinigkeit? Mit dem gleichen Recht könnte ich dann allerdings darin eine Aufforderung sehen, sich zu dritt zusammenzuschließen, um eine Flasche Wodka zu köpfen.
Ein Kopfsteinpflaster gab es nur in zwei Gassen, durch die ich kam, und selbst dort war es eindeutig jüngeren Datums. Die Straßen selbst erweckten den Eindruck, auf Touristen eingestellt zu sein, mit den zahllosen Geschäften, in denen Helme und Säbel als Souvenirs verkauft wurden, Räucherstäbchen, Wasserpfeifen, Bastschuhe, verschiedenfarbige Kerzen, aus Birkenrinde geschnitzte Vögel, Tuler Honigkuchen, Kuckucksuhren (in denen jedoch kein Kuckuck, sondern eine pechschwarze Holzkrähe hauste) und große, grob bemalte Lithographien. Ein Verbot, Menschen darzustellen, existierte also entweder nicht oder wurde nur von den Gläubigen beachtet: Ich kam an zwei Gemäldegalerien und einer Teppichhandlung vorbei, in denen es reißerisch hieß: »Das schönste Geschenk für Ihre Liebste: ihr Bildnis auf einem Teppich!«
Die Überzeugung des Teppichhändlers vermochte ich nicht uneingeschränkt zu teilen, schließlich webte man in meiner Welt - wenn überhaupt - nur die Porträts von Präsidenten und Diktatoren in Teppiche ein. Aber der im Schaufenster ausgestellte kleine Teppich mit dem eingearbeiteten Gesicht einer rotblonden, sommersprossigen Frau sprach in der Tat an. Er wirkte weder angeberisch noch billig.
Es gab auch etliche Restaurants und Cafés. In einem winzigen Imbiss - es standen zwei Tische drinnen und zwei auf der Straße - bestellte ich eine Schale Tee und zwei große, dampfende Fleischpiroggen. Ich setzte mich nach draußen, neben dem Eingang stand ein Heizpilz, angeschlossen an eine Gaskartusche. Der katalytische Brenner atmete zischend durch sein Gitter Wärme aus, brachte damit die vereinzelten Schneeflocken zum Schmelzen und trocknete das Steinpflaster der Straße.
Die Piroggen waren lecker und saftig, mit mehr Fleisch als Zwiebeln. Auch der starke Tee schmeckte, selbst wenn man, ohne mich vorher zu fragen, unnötigerweise zwei Löffel Zucker hinzugegeben hatte.
Letzten Endes herrscht der Magen doch maßgeblich über den Kopf. Mit einem Mal stellte sich mir Oryssultan überraschend sympathisch dar. Alles in allem war Veros doch eine wunderbare Welt! Sprach nicht tatsächlich einiges dafür, die Entwicklung der Zivilisation im 19. Jahrhundert anzuhalten? Gut, vielleicht nicht ganz zu stoppen, aber zumindest abzubremsen, damit der technische Fortschritt den moralischen nicht abhängte?
Ich spazierte am Tempel des Propheten Isa entlang, bis ich auf den Haupteingang traf. Wenn ich mich mit dem Rücken zum Gotteshaus stellte, lag die breite Straße vor mir, über die recht viele Kutschen fuhren, angefangen von kleinen zweirädrigen bis hin zu großen Phaetonen. Schlitten gab es hier übrigens gar keine. Die zahllosen Hauswarte ließen diesen Transportmitteln anscheinend nicht die geringste Chance.
Schön, schön. Aber wo sollte ich hier »zehn, elf Uhr« suchen? Wo fand ich dieses Türmchen mit der Uhr, dem Vogel und dem Laden?
Ich musste nicht lange suchen. Schlagartig begriff ich, was Zebrikow mit seiner Formulierung gemeint hatte. Dafür reichte ein Blick auf den Turm über einem Uhrengeschäft. Er hatte nicht an einen frei stehenden Turm, sondern an einen Dachturm gedacht.
Der Alte hatte sich in Wortspielen versucht.
Zum einen hatte er fraglos die Richtung im Sinn gehabt. Schaue in Richtung zehn Uhr hieß nichts anderes als: Schau nach vorn und ein wenig nach links. Zum anderen gab es dort tatsächlich an die zehn große Uhren, die entweder lange nicht gestellt worden waren oder die Zeit in verschiedenen Städten anzeigten. Das kleine einstöckige Haus hatte im ersten Stock überhaupt kein Fenster - nur Zifferblätter.
Die größte Uhr befand sich jedoch in dem kleinen Turm überm Dach. Das Zifferblatt hatte einen Durchmesser von mindestens anderthalb Metern. Genau in dem Moment sprang aus der Holzluke eine Krähe heraus und krächzte: »Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah!«
Ich zuckte mit den Achseln.
Jeder verliert auf seine eigene Weise den Verstand. Zebrikow chattete mit der Begeisterung eines Neubekehrten durchs Netz. Ein anderer züchtet Fische, ein dritter unterhält einen Uhrenladen.
Die Funktion war eine Sache - das Hobby eine andere.
Aber warum ersetzten hier Krähen die Kuckucke?
Ich wartete, bis sich der Strom von Kutschen lichtete, und überquerte die Straße. Ampeln oder Zebrastreifen gab es nicht, allerdings erlaubte der Verkehr diese Nonchalance durchaus.
Die Tür in den kleinen Laden war nicht verschlossen. Als ich sie öffnete, klimperte ein Glöckchen. Der Inhaber selbst war auch vor Ort, er stand hinterm Ladentisch, ein freundlich lächelnder, dicker Brillenträger, der durch und durch europäisch aussah. Er trug einen bunten Hausmantel, weiße Ornamente auf grünem Untergrund, was seinem Äußeren eine Note exzeptioneller Komik verlieh.