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»Andrjuscha?«, sprach ich ihn an.

»Assalam aleikum, mein Guter.« Der Dicke trat hinter dem Ladentisch hervor, ergriff mit beiden Händen meine Rechte und schüttelte sie. Seine Beine waren von weiten, dunkelgrünen Pumphosen umhülltt, seine Füße steckten in weichen Lederschuhen. »Sei Gast in meinem bescheidenen Laden, Unbekannter. Nicht alle ... nicht alle bemerken ihn, geblendet wie sie sind von der Größe des Tempels des Propheten Isa ... den Moslems sei ihre unzutreffende Einschätzung seiner Rolle in der Geschichte verziehen!«

Um den Hals des Zöllners (und ich spürte deutlich, dass vor mir ein Funktional stand) hing eine Kette. Als Andrjuscha meinem Blick folgte, öffnete er den Kragen des Mantels und zeigte mir ein Kreuz.

»Ich hänge dem Wahren Glauben an«, verkündete er stolz. »Nein, ich bin kein Extremist, das versteht sich von selbst! Das Christentum ist seinem Wesen nach eine friedliebende Religion, die zu Liebe und geistiger Vervollkommnung anhält. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert - das ist ein sinnbildliches Zitat, das auf keinen Fall ...«

»Ich bin ebenfalls ... sozusagen Christ«, murmelte ich. »Orthodox ...«

»Ach! Sei gegrüßt, mein Bruder! Verzeih mir, mein Bruder! Ich bin daran gewöhnt, mit Moslems zu streiten, die die Christen stets der Aggressivität bezichtigen, selbst die intelligentesten unter ihnen ... Womit kann ich Euch dienen, Freude meiner Augen?«

»Warum sitzen in den Uhren keine Kuckucke?«, wollte ich wissen.

»Hmm ...« Andrjuscha kniff die Augen zusammen. »Andrjuscha, der Kuckuck, orthodox ... Verstehe. Du bist aus Moskau? Stimmt’s? Kostja schickt dich?«

Ich nickte.

»Was hat Kostja noch mal für einen Spitznamen?«

»Kotja.«

»Und was lässt er mir übermitteln, o Freund meines Freundes?«

»Einen Brief«, erklärte ich und kam mir wie der letzte Idiot vor. Ich hatte den Brief nun doch nicht gelesen, hatte mich geniert.

Rasch überflog Andrjuscha den Brief. Derweil sah ich mich um. Der Laden war nicht sehr groß, der Ladentisch teilte ihn in der Mitte. An der Eingangsseite lagen die Tür und ein Fenster, standen ein paar abgeriebene Sessel. Hinter dem Ladentisch führte eine weitere Tür ins Innere des Hauses, und die gesamte Wand war mit Uhren behangen.

»Also die Kuckucke ...«, murmelte Andrjuscha, während er noch las. »Wir haben hier keine Kuckucke, mein Teurer. Die hat der Herrgott nicht erschaffen. Möglicherweise gibt es ja tatsächlich einen solch niederträchtigen Vogel, der seine Eier in fremde Nester legt, aber dann schreit er nicht ›Kuckuck‹ und sitzt nicht in Uhren. Die Krähe jedoch ... die Krähe ist ein kluger Vogel, pfiffig, mit Sinn für Humor, mit Sinn für das richtige Maß, ein Vogel, der um seine Verantwortung gegenüber dem Schwarm weiß. Das ist ein würdiger Vogel! Und sein Schrei ist durchdringend und weithin hörbar!«

Er faltete den Brief zusammen und legte ihn irgendwo unterm Ladentisch ab. Dann betrachtete er mich mit einem völlig veränderten, ernsten Blick. »Wie heißt du, unerwarteter Gast?«

»Kirill.«

»Sehr angenehm. Ich bin Andrej. Gute Freunde aus Moskau nennen mich Andrjuscha, aber wenn ich ehrlich sein soll, ist das in unserer Welt nicht üblich. Aber es gibt da einen Spaßvogel ... der spricht aus unerfindlichen Gründen alle Zöllner mit Koseformen an.«

Ich wurde knallrot. Nikolenka, Andrjuscha - natürlich. Kotja bevorzugte ja sogar für sich selbst einen von der Koseform abgeleiteten Spitznamen, ein Prinzip, das er ausnahmslos auf seine Umwelt übertrug.

»Sehr angenehm, Andrej.«

Wir reichten uns noch einmal die Hände.

»Wir haben keine Kuckucke«, wiederholte Andrej. »Und keine Strauße. Auch einige Fisch-, Insekten- oder Säugetierarten gibt es hier nicht. Dafür Riesenkraken im Meer, Dinosaurier in Afrika ...«

»Dinosaurier?«, rief ich voller Begeisterung aus.

»Sicher. Zwei Dutzend Arten, glaube ich. In der Regel kleine, von den großen ist nur der Tyrannosaurus vertreten. Aber er steht auf der Roten Liste, von ihm gibt es nur noch rund fünfzig Exemplare ...« Andrej verstummte, bevor er verwundert fortfuhr: »Warum begeistern sich bloß alle Demosier für die Saurier?«

»Wer?«

»Die Menschen aus deiner Welt, Sohn der Naivität! Aus der Welt, in der Moskau liegt. Ihr nennt unsere Welt Veros, wir eure Demos.«

»Warum das?«

»Bei euch gibt es überall Demokratie, so eine altertümliche Gesellschaftsform.«

»Sie ist nicht altertümlich!«, begehrte ich auf. »Und ihr habt hier doch Feudalismus, oder?«

»Haben wir«, bestätigte Andrej. »Die fortschrittlichere Gesellschaftsform. Die Demokratie hatten wir im Altertum.«

»Wir auch, in Athen«, glänzte ich mit meinen Kenntnissen. »Im alten Griechenland.«

»Ich kenne eure Geschichte«, unterrichtete mich der Uhrenhändler. »Hör zu! Die Demokratie ist eine altertümliche Form der politischen Machtausübung, untrennbar verknüpft mit Sklavenhalterei und mit der rechtlichen Gleichstellung eines Weisen und eines Toren, eines Nichtsnutzes und eines Meisters, eines erfahrenen Alten und eines grünen Jungen. Was soll an einer solchen Gleichmacherei gut sein?«

»Und wie ist es bei euch?«

»Wir haben ein progressives Referendumssystem. Jeder Bürger verfügt in Abhängigkeit von der Summe auf seinem Konto bei der Stadtbank über einen Bedeutungskoeffizienten, der das Gewicht seiner Stimme bei den Referenden zu den wesentlichen Fragen festlegt.«

»Was soll an einem solchen System fair sein?«, ereiferte ich mich. »Wer reicher ist, hat ...«

»Eben nicht!« Andrej drohte mir mit dem Finger. »Pass auf. Das Geld muss in der Stadtbank liegen. Auf diese Weise arbeitet es für das Wohl der Stadt und der Gesellschaft. Wenn du es privat für dich arbeiten lässt oder in den Sparstrumpf steckst, dann denkst du nicht an deine Mitmenschen - und hast einen entsprechend niedrigen Bedeutungskoeffizienten. Das zum einen. Die Referenden finden sonnabends am frühen Morgen statt. Wenn du da hingehst, verzichtest du auf deinen Schlaf, was abermals dein Verantwortungsbewusstsein unterstreicht, dein persönliches Interesse an der Frage, die es zu entscheiden gilt. Das zum anderen. Wenn du nicht in der Lage bist, genügend Geld zu verdienen, bist du entweder noch sehr jung und hast keine Lebenserfahrung oder du hast dir den falschen Beruf gesucht, und dann bist du entweder dumm oder lebst völlig an der Realität vorbei. In dem Fall musst du dich fragen lassen: Welchen Grund gäbe es, dir die Entscheidung wichtiger Fragen anzuvertrauen?«

Ich machte eine abwehrende Geste. »Schon gut, ich bin ja überzeugt. Das ist sehr progressiv und originell. Ein Bankier bringt sein ganzes Geld auf die Bank - und entscheidet für alle.«

»Wieso das? Vergiss den Koeffizienten nicht! Ein Mensch, eine Stimme. Diese Größe wird entweder mit null multipliziert, wenn du kein Geld auf der Bank hast, oder mit einer Ziffer, die logarithmisch von null nach eins strebt. Aber mehr als eins wirst du nie erreichen. Die Stimmen von zwei normalen, durchschnittlichen Händlern wiegen mehr als die Stimme des reichsten Bankiers.«

»Überzeugt mich trotzdem nicht«, widersprach ich. »Wenn man das Stimmrecht kaufen kann ...«

»Ach, mein argloser Bruder! Werden bei euch die Stimmen etwa nicht gekauft?« Andrej brach in Gelächter aus. »Und du kannst ja noch froh sein, wenn du Geld dafür bekommst. Normalerweise werdet ihr ja mit Versprechen abgespeist ...«

Ich schüttelte den Kopf. »Halt. Auf diesen Streit lasse ich mich nicht ein. Ehrlich gesagt, ist mir doch egal, ob es nun eine Demokratie ist, Feudalismus ...«

»Und weil euch alles egal ist, kommt euer Leben nicht ins Lot«, belehrte mich Andrej im Ton eines Oberlehrers.

Ich wollte widersprechen. Aber warum auch immer: Die Vorteile unserer Welt wollten mir einfach nicht über die Lippen. Demos - was soll man dazu sagen!

»Und wie ist die Gesellschaft auf Feste aufgebaut?«