»O Vater der Wissbegier!« Der Uhrmacher lächelte. Anscheinend waren politische Vorträge seine Leidenschaft. Wenn er in unserer Welt leben würde, wäre er garantiert Politiker oder Journalist. »Dort gibt es eine Theokratie. Aber nicht einfach eine Theokratie, sondern eine scholastische Theokratie darwinistischer Ausrichtung.«
»Wie soll das denn gehen?« Die Reste meiner Zöllnerkenntnisse oder der Bücher, die ich irgendwann mal gelesen hatte, ließen mich zumindest den großen Zusammenhang verstehen. »Irgendwie passt das ja wohl nicht ganz zusammen.«
»Ganz im Gegenteil!« Andrej kicherte. »Die Regierung dort ist religiös geprägt, alles auf der Welt leiten sie aus der Bibel ab. Aber auf Feste hat auch ein bestimmter Mensch gelebt, Charles Darwin. Bei euch ist der doch auch bekannt, oder?«
»Ja. Und bei euch?«
»Hier ist er während einer Schiffsreise gestorben. Vermutlich beim Angriff eines Riesenkraken. Er hat es nicht geschafft, sich irgendwie hervorzutun.«
Ich nickte mit finsterer Miene.
»Kurz und gut«, fuhr Andrej unverdrossen fort, »Darwin hat eine Theorie aufgestellt, derzufolge sich in der Evolution der Pflanzen und Tiere Gottes Wille offenbart. Später schuf er zusammen mit dem Mönch Mendel, mit dem ihn eine zarte und treue Freundschaft verband, die Grundlagen der praktischen Genetik, mit der die göttlichen Kreaturen zum höheren Ruhme und zur Freude des Schöpfers verändert werden konnten.«
Er sprach voller Ernst, aber in seinen Mundwinkeln versteckte sich ein Lächeln.
»Zum höheren Ruhme und zur Freude?«, hakte ich nach.
»So wurde es vom Heiligen Konklave nach einer dreißig Jahre währenden Diskussion der Frage entschieden. Der nach dem Abbild Gottes und ihm gleich geschaffene Mensch ist zwar eine erbärmliche Kreatur, vermag jedoch in den Händen des Herrn als Werkzeug zu dienen. Biologie und Genetik sind auf Feste mit Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten. Die Arbeiten des Heiligen Darwin und des Heiligen Mendel hat ein großer russischer Forscher fortgeführt, der nach seinem Tod ebenfalls heiliggesprochen wurde ...«
»Der Botaniker Mitschurin«, brachte ich finster hervor.
»Richtig!« Andrej lachte. »Iwan Mitschurin.«
»Wie ist er gestorben?«, fragte ich. »Ist er auf einen Apfelbaum geklettert, um Melonen zu pflücken, und wurde unversehens von einer Kirsche erschlagen?«
»Das ist ja entsetzlich!« Andrej verstand den Witz nicht. »Nein, Sohn der schönen Worte! Mitschurin starb bei einem Experiment zusammen mit seinen Laborangestellten, seinem Vivarium und seinem Versuchsbeet. Du weißt, Experimente am Genom sind nicht ungefährlich ...«
Ich wusste es nicht. Aber ich glaubte ihm aufs Wort.
Andrej ließ ein paar Sekunden verstreichen und stieß einen Seufzer aus. Anscheinend war er durchaus geneigt, sich weiter über Demokratie, Religionen, das Genom und den heiligen Darwin auszulassen. »Ich habe eine sehr günstige Tür nach Feste«, sagte er schließlich. »Etliche der Zugänge sind von den dortigen Machthabern geschlossen worden, andere liegen an einsamen Orten. Glücklicherweise gibt es noch meinen Zugang, über den der Kontakt gehalten wird. Die Tür führt genau zum Hof des Konklaves im Vatikan.«
»Des Konklaves?«
Andrej seufzte erneut. »Ist dir bekannt, dass dort das Christentum regiert, Enkel der Bildung? Dieses Christentum gleicht jedoch nicht dem bei euch oder bei uns. Einen Papst, noch dazu einen unfehlbaren, gibt es dort nicht. Stattdessen haben sie das Konklave der Kardinäle ... sechs Kardinäle. Gehen wir, mein Freund!«
Ich folgte ihm durch den Laden. Andrej öffnete die schmale Tür in der Wand hinter der Ladentafel und zwängte sich hindurch.
Was nun kam, passte schon besser zum Zuhause eines Funktionals, zu einem alten, eingewohnten und umgebauten Zuhause. Ein großer Saal, auf allen vier Seiten mit Mosaikfenstern, wie in einer Kirche. Durch zwei einander gegenüberliegende Fenster schaute die Sonne herein - genauer die Sonnen aus zwei Welten des Multiversums.
»Also«, erklärte Andrej, als er meinen Blick auffing, »das da ist Feste, das andere Janus.«
»Da bin ich schon gewesen«, meinte ich. »Kennen Sie die Zöllnerinnen Wassilissa und Marta?«
»Aus eurer Welt?«
»Ja. Sie haben jeweils eine Tür nach Janus. Ich bin von Wassilissa zu Marta gegangen ...«
»In welcher Jahreszeit?«
»Es war vor kurzem, da brach gerade erst der Winter an.«
»Also müssen ihre Türen weit weg von meiner liegen. Denn da, wo meine Tür hinführt, ist bereits Sommer. Überzeug dich ruhig!«
Neugierig stiefelte ich hinterher. Janus hatte ja nicht nur einen widerwärtigen Eindruck bei mir zurückgelassen, sondern auch Stolz: Ich hatte diese unwirtliche Welt überlebt.
Unter dem Mosaikfenster, das orangefarbene und grüne Lichtreflexe auf den Boden warf, befand sich eine einfache Holztür mit einem gewaltigen Riegel. Allem Anschein nach wurde er nicht häufig betätigt, denn Andrej ächzte, als er ihn zur Seite schob. Anschließend öffnete er die Tür weit und trat zur Seite, damit ich das Ergebnis bewundern konnte.
Schweigend blieb ich an der Schwelle stehen.
Vor mir erstreckte sich ein gelbes Meer aus Sand. Heißer trockener Wind hatte die Fläche glatt gefegt, es gab weder Dünen noch Steinchen am Strand. Das Einzige, was den Blick erfreute, war der Himmel. Blendend blau, rein, klar, mit einer funkelnden Sonnenscheibe.
»Darf ich raus?«, fragte ich.
»Natürlich. Schau dich ruhig um.«
Vorsichtig trat ich zur Tür hinaus und sah mich um. Die Hitze stülpte sich sofort über mich. Ich drehte mich um. Die Zollstelle gab sich in dieser Welt als altes Gebäude aus verwittertem Sandstein, in dem völlig unpassend oben ein Mosaikfenster prangte. Etwas abseits standen zwei in den Sand eingetiefte Pfeiler, zwischen denen eine Leine im Wind baumelte.
»Am Anfang wollte ich hier meine Wäsche trocknen«, erklärte mir Andrej von der Türfüllung aus. »Aber sie wird hier ganz starr und riecht nach Sand. Immerhin kannst du hier bequem Fleisch dörren. Fliegen gibt es nicht, und das Wetter ist im Sommer immer klar. Du kriegst hier einen Schinken hin, danach leckst du dir alle Finger!«
Mit einem Nicken betrat ich die Zollstelle wieder.
»Nun denn, auf nach Feste«, sagte Andrej, während er die Tür zuschloss. »Mit Gottes Hilfe ...« Er bekreuzigte sich.
Für alle Fälle tat ich es ihm nach. Und nach den anderen Welten erkundigte ich mich lieber gar nicht erst.
Die Tür nach Feste wurde eindeutig häufiger geöffnet. Andrej schloss sie auf, wartete - und zog sie ganz langsam auf. Ganz vorsichtig. »Du musst wissen«, bemerkte er, »dass dies der einzige passierbare Zugang in ihre Welt ist. Alle anderen sind zugemauert. Und dieser hier wird ständig beobachtet ...«
Hinter der Tür lag ein kleiner Hof, den eine nicht sehr hohe weiße Mauer säumte. Der Boden war mit Kopfsteinen gepflastert. In der Mauer gab es eine Tür. Und zahllose winzige Öffnungen, Fensternischen vielleicht, vielleicht aber auch Schießscharten. Sofort bemächtigte sich meiner ein unangenehmes Gefühl, als spähten mich durch diese Löcher unzählige missbilligende Augen an. Ja, mehr noch, als beobachteten sie mich nicht nur - sondern hielten eine Waffe auf mich gerichtet.
»Guten Tag«, brachte Andrej laut hervor. »Friede sei mit euch, zum Ruhme des Herrn!«
Daraufhin öffnete sich die Tür in der Mauer. Was für eine aufmerksame Wache, ständig auf der Lauer ...
Nun betrat den Hof die ungewöhnlichste Prozession, die ich mir vorzustellen vermochte.
Dass in unserer Welt der Papst von einer Schweizer Garde bewacht wird, die grellbunte, clowneske Kleidung trägt - Uniformen mit blauen, orange, roten und gelben Streifen vom Kopf bis zu den Füßen -, wusste ich. Viele Menschen sind der Ansicht, diese Uniformen gingen auf Michelangelo zurück, andere hingegen versichern, sie seien erst hundert Jahre alt und wären von einem Hauptmann der Schweizer Garde entworfen worden. Im Grunde haben beide Seiten recht, denn der Haudegen mit den Ambitionen zum Modemacher hat alte Skizzen Michelangelos herangezogen, die seinerzeit von den konservativen Katholiken abgelehnt worden waren. Folglich wunderte ich mich nicht sehr, als im Hof grellbunte Kleidung auftauchte.