Aber Feinde waren keine da.
Überhaupt keine.
Zumindest keine sichtbaren!
»Das ist eine Falle!«, schrie ich, packte den Kardinal und zog ihn zur Seite.
Mein Fehler hatte in der Annahme bestanden, das technische Niveau Arkans entspräche dem der Erde. Im Grunde hätten mich bereits die funktionstüchtigen Raketenranzen davon abbringen müssen, schließlich brüteten unsere Geistesgrößen an denen auch schon viele Jahrzehnte, ohne dabei mehr zustande zu bringen als ein hübsches Spielzeug für die Herrschenden.
Arkan stand von diesen Raketenranzen abgesehen noch eine weitere erstaunliche Waffe zur Verfügung, jener alte Traum unserer Freimaurer und Dekabristen: die Unsichtbarkeit.
Über dem Rasen schien eine durchsichtige, elastische Membran zu vibrieren. In der Luft zeichneten sich die Silhouetten von Soldaten ab. Ein halbes Dutzend. Einige trugen MPis, zwei andere klobige, dickläufige Kanonen. Herr im Himmel, waren das Granatwerfer? Oder Flammenwerfer?
Der alte Yorkshire des Kardinals schraubte sich lautlos in die Luft. Aber entweder war er zu alt oder die Funktionale waren ihm haushoch überlegen. Sie schossen nicht mal auf ihn. Einer trat vor - und zog dem über dem Boden schwebenden Hund mit dem Kolben der MPi eins über. Ein stumpfer Schlag, der Hund fiel lautlos ins Gras.
»Diese Opfer sind nicht nötig«, hörte ich eine Stimme. »Wir haben keine Forderungen an die Regierung oder das Volk von Feste. Wir verlangen lediglich die Auslieferung eines Verbrechers.«
Mein Blick irrte von einem Soldaten zum nächsten.
Von denen hatte keiner gesprochen! Selbst durch die heruntergelassenen Scheiben ihrer Visiere hatte ich gesehen, dass kein Soldat die Lippen bewegt hatte.
Da gab es noch jemanden, und der hielt sich weiter im Schutz der Unsichtbarkeit verborgen.
Rudolf ging langsam vorwärts. Er sah auf seinen Hund und schüttelte den Kopf. »Feste liefert diejenigen, die hier Asyl erbeten, nicht aus. Wenn Sie diesen Menschen eines Verbrechens beschuldigen, verlangen wir Beweise.«
»Die Beweise wurden bereits vorgelegt.«
Ja, nun konnte es keinen Zweifel mehr geben. Da gab es jemanden, der es vorzog, unsichtbar zu bleiben.
»Das sind keine Beweise.« Rudolf schüttelte den Kopf. »Die Erfahrungen ... die wir im Laufe unserer Beziehungen gemacht haben, gestattet es mir nicht, auf leere Worte zu vertrauen. Mit dieser Demagogie kommen Sie vielleicht auf Demos durch.«
»Dann werden Sie sterben, denn wir holen ihn uns so oder so.«
Rudolf nickte. »Ja, ich hatte recht«, meinte er mit unverhohlener Erleichterung. »Sie brauchen ihn lebend. Lauf, Kirill!«
Das brauchte man mir nicht zweimal zu sagen. Ich stürzte nach rechts, dorthin, wo eine andere schmale Gasse zu den Polizeikasernen führte.
Hinter mir donnerte die »Kanone« in den Händen des Soldaten.
Das abgefeuerte elastische Plastiknetz erwischte mich nur noch mit dem Rand. Das genügte jedoch, denn die dünnen Fäden wickelten sich um meine Beine. Ich fiel hin - und sah, wie sich die drei Frauen in ihr letztes Gefecht warfen, zwei in den idiotischen bunten Uniformen, eine in einem jetzt noch viel idiotischeren weißen Kleid ...
Die MPis ballerten wieder. Nachdem ich gestürzt war, zögerten sie nicht, das Feuer zu eröffnen. Keine der Frauen, die dafür ausgebildet waren, den Kardinal zu beschützen, schaffte es bis zu den Soldaten. Vermutlich hätten sie gegen die besttrainierten Soldaten der Erde eine Chance gehabt. Gegen Funktionale oder gedopte Arkaner jedoch nicht.
Sie gingen zu Boden, während Rudolf noch immer stand, schwankend und mit ausgebreiteten Armen, den Kopf in den Nacken zurückgeworfen und gen Himmel blickend, als suche er dort etwas. Ich sah, wie aus der im Rücken aufgerissenen Sutane mit Stößen von Blut das Leben wich.
Irgendwann sackte der Kardinal, der für die äußere Sicherheit Festes verantwortlich war, auf die Erde seiner renitenten Welt.
Es verstrich eine Sekunde, eine weitere, als ob die Arkaner befürchteten, die Toten würden sich wieder hochrappeln. Auf einen Befehl hin standen zwei Soldaten auf und kamen auf mich zu.
Die Toten erhoben sich nicht. Aber der von dem Kolben getroffene Hund zuckte, drehte den Kopf und bohrte in seiner letzten Bewegung die winzigen Zähne in den schweren, hohen Stiefel eines an ihm vorbeigehenden Soldaten.
Der schrie auf - wie kein Soldat der Welt schreien würde, der durch das harte Leder des Stiefels von einem Tier gebissen wurde, das höchstens drei Kilo auf die Waage brachte. Er wirbelte auf dem Absatz herum, schmiss die MPi weg und riss den Fuß mit dem daran baumelnden Hund hoch. Das Bein schwoll an, genauso wie die Figuren in den lustigen Disney-Zeichentrickfilmen anschwellen, wenn sie jemand aufpumpt. Im Unterschied zu diesen Figuren wirkte der Soldat jedoch gar nicht lustig. Der Schrei ging in ein Röcheln über, der aufgeblasene Körper klatschte aufs Gras.
»Und die Zähne der Ratte sind mit Zyankali getränkt ...«, zitierte ich flüsternd einen Passus aus einem alten Film, während ich versuchte, meine Beine von dem Plastiknetz zu befreien. »Mit Zyankali, mit Gift ...«
Natürlich hatte eher eine Schlange dem Terrier die Zähne geschenkt, die in dem Land der Gentechniker noch tödlicher waren als bei uns. Aber außer dieser alten Phrase kam mir im Moment nichts in den Sinn.
»Gift ... Gift ...«, flüsterte ich.
»Sie haben den Kardinal ermordet!«, erschallte es plötzlich von oben. Auf dem Balkon eines der Häuser stand eine Frau, die sich die Haare raufte, ohne dass sich das gekünstelt ausnahm. »Sie haben den Kardinal ermordet!«
Schon im nächsten Moment nahmen die Ereignisse eine radikale Wendung.
Die Bewohner, wie verschreckt sie auch gewesen sein mochten, hatten sich nicht unterm Bett versteckt, sondern verstohlen an Fenstern und Balkonen gelauert. In die Auseinandersetzung zwischen den Gardistinnen und diesen mysteriösen Besuchern hätten sie sich vielleicht nicht eingemischt. Doch der Mord an dem Kardinal brachte sie auf.
Auf die Köpfe der Soldaten hagelte es Blumentöpfe, Stühle, Kochtöpfe, Bretter und Weinflaschen, leere wie volle. Flaschen gab es besonders viele, sie krachten wie Granaten und trafen die Soldaten wie ein Glasschrapnell. Das rote Blut der Trauben vermischte sich mit dem Blut der Menschen.
Ein einziges Chaos. Die Soldaten schirmten ihre Köpfe ab und schossen nach oben, in Richtung Fenster. Vorerst hatte man mich vergessen.
Und ich hätte all diejenigen, die eben für mich gestorben waren, verraten, wenn ich diese wenigen Sekunden nicht genutzt hätte.
Ich versuchte nicht weiter, meine Beine aus dem Netz zu befreien - es war klebrig und spann mich nur immer fester ein -, und kroch zu der aufgedunsenen Leiche. Bei seinem Sturz war der Soldat auf der MPi gelandet. Ich stieß den Körper weg und schnappte mir die Waffe.
Irgendwie erinnerte die MPi an die legendäre Kalaschnikow. Zumindest fanden meine Finger von selbst den Hebel, mit dem ich auf Dauerfeuer umschaltete. Ich hockte mich hin, stemmte den Kolben gegen die Schulter und hielt die Luft an.
Dann schwenkte ich den Lauf und bestrich die Soldaten mit Blei.
Ich hatte nicht das geringste bisschen Mitleid mit ihnen. Keinerlei Skrupel. Ihr habt mich schon einmal gezwungen zu töten, ihr Schweine: die Rebellen in Kimgim, die Hebamme auf der Erde. Jetzt seid ihr selber an der Reihe. Denn mit dem Versteckspiel ist es aus und vorbei!
Ich merkte nicht mal, wie plötzlich alles um mich herum langsamer lief. Die Sachen segelten träge aus den Fenstern herab, die Kugeln drangen langsam in die Schusswesten der Soldaten ein, die zerfetzten Körper plumpsten wie in Zeitlupe zu Boden. Mein Herz schien stillzustehen, während das Blut in meinen Adern brodelte. Die MPi in meinen Händen bewegte sich so rhythmisch und zielsicher auf und ab, als schlüge ich Nägel ein. Es schien nicht viel zu fehlen, und ich würde erkennen, wie die Kugeln aus dem Lauf krochen.