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Meine Funktionalsfähigkeiten waren zurückgekehrt. Ohne jeden Turm, ohne Funktion, die von mir geboren wurde und die mich gebar, und ganz ohne Leine, diese energetische Nabelschnur, hatte ich einfach in den beschleunigten Rhythmus umgeschaltet.

Auch mein Blick hatte sich verändert. Nein, ich sah keine Auren, von denen der Kardinal gesprochen hatte. Aber ich identifizierte mit unumstößlicher Sicherheit unter den Toten zwei Funktionale; einen der beiden hatte der Yorkshire des Kardinals umgebracht. Sie sahen ... irgendwie anders aus. Vielleicht klarer.

Außerdem bemerkte ich noch den regenbogenfarbigen Nebel, der wie eine Seifenblase im Wind schaukelte. Was war das? Ein Tarnfeld? Eine Membran? Ich hatte keine Ahnung, aber es war genauso perfide wie dieses Scheißding, das die Soldaten anfangs verborgen hatte. Und in dieser Blase hielt sich immer noch jemand versteckt.

Ohne den Blick von dem Unsichtbaren zu wenden, ertastete ich am aufgedunsenen Körper des Soldaten (wenn der bloß nicht platzte!) die Scheide und zog die Klinge heraus. Mühevoll, aber immerhin erfolgreich zerschnitt ich die klebrigen Fäden und erhob mich.

»Komm raus, du Schwein!«, schrie ich. »Komm endlich raus!«

Ich hegte keinen Zweifel daran, dass sich in der Blase ein Funktional verschanzt hatte. Das genauso beschleunigt war wie ich. Weshalb es auch meine Worte verstehen musste.

»Sehr eindrucksvoll!«, erwiderte der Unsichtbare. »Aber jetzt sollten wir wieder Vernunft walten lassen. Schließlich sind wir doch erwachsene ...«

Ich schoss auf die Stimme. Die MPi gab eine kurze Salve ab und verstummte. Aber entweder hatte ich keinen einzigen Treffer gelandet oder meinem Feind stand nicht nur die Unsichtbarkeit, sondern noch ein anderer Schutz zur Verfügung.

Eins hatte ich immerhin erreicht. Der Feind riskierte es nicht, das Gespräch fortzusetzen. Stattdessen loderte in der Luft ein Schriftzug auf, und es knallte leicht, als platze die Blase. Derjenige, der meine - glücklos verlaufene - Ergreifung befohlen hatte, verschwand auf demselben Weg wie Kotja, wenn er sich zwischen den Welten bewegte. Und genau wie dieser mied er den ehrlichen Kampf.

Ein Kurator? Hatten sie zu meiner Festnahme einen Kurator geschickt? Oder irgendein anderes hohes Tier aus Arkan? Denn einfache Funktionale, was auch immer sie sein mochten, beherrschten solche Tricks nicht.

In einem Punkt zumindest war ich mir sicher: Die Stimme kam mir zwar vage bekannt vor, gehörte aber nicht Kotja. Wenigstens handelte es sich hier also nicht um einen Hinterhalt seinerseits. Aber wozu hätte Kotja auch ein doppeltes Spiel spielen sollen, nachdem er mich erst vor den polnischen Polizisten und dann auf Janus vor der Kälte gerettet hatte? Nein, Verfolgungswahn ist ja schön und gut - wenn er sich in Grenzen hält.

Ich ging zum Kardinal. Kopfschüttelnd sah ich Rudolf ins Gesicht. Ein Mann, den vier oder fünf MPi-Geschosse getroffen haben, stirbt sehr schnell.

Die Frauen waren ebenfalls tot. Ich kniete mich neben Elisa, drehte sie auf den Rücken und streckte ihre Arme lang neben ihrem Körper aus. Zwei Kugeln hatte sie abbekommen, eine in den Bauch, eine ins Herz. Ich musste froh sein, dass sie wenigstens einen raschen Tod gefunden hatte.

Wenn all das im Kino oder in einem Buch passiert wäre, wäre Elisa jetzt selbstverständlich noch am Leben. Sie würde mir ergreifende und pathetische Worte zuflüstern, etwas in der Art von Rudolfs Floskeclass="underline" »Finde das Herz der Finsternis«. Vielleicht: »Das ist genau wie in dem Buch ... einer für alle und alle für einen.« Daraufhin würde ich fortgehen, mir auf die Lippe beißend, mit Tränen in den Augen und nach Rache dürstend, ein einsamer, stolzer und unbeugsamer Mann ...

In dem Moment traf meine Schulter ein aus einem der Fenster geschleuderter Topf. Ein stinknormaler Nachttopf aus schwerem Porzellan. Nur gut, dass er mich nur streifte, und gut, dass er leer war.

Die Zeit schaltete auf ihr normales Tempo zurück. Und in dieser Echtzeit war kein Platz für vollmundige Phrasen, heilige Schwüre und laute Totenklagen.

Lasst die Toten ihre Toten begraben. Ich war mir sicher, dass Rudolf und Elisa mich verstanden hätten.

Ich warf die MPi mit dem leeren Magazin weg und schnappte mir eine neue Waffe. Die gefallenen Soldaten trugen kleinere Rucksäcke. Ich nahm mir einen und suchte ihn aufmerksam nach Einschusslöchern ab. Wenn ich später auch noch Patronen in ihm fände ...

Und jetzt musste ich Land gewinnen, bevor die wütenden Bewohner aus ihren Häusern stürmten. Es würde mir wohl kaum gelingen, der Menge zu erklären, dass ich einer von ihnen war und nicht zu den Soldaten gehörte ...

Zunächst rannte ich die Gasse hinunter, die zu den Kasernen führte. Die Richtung war mir wundersamerweise noch im Gedächtnis. Ich hätte keine Sekunde länger darauf warten dürfen: Hinter mir klapperten Türen und ertönten Stimmen. Aber anscheinend verfolgte man mich nicht.

Nach fünfzig Metern blieb ich stehen.

Wohin lief ich da überhaupt?

Würden die Polizisten mich nicht für einen Feind halten? Würden sie nicht irgendwelche Malteser Kampfmäuse auf mich loslassen, mich für alle Fälle mit ihren Hellebarden erledigen?

Worauf hoffte ich denn eigentlich, wenn ich mich hinter den hiesigen Landsknechten versteckte? Es würde nur noch mehr Leichen geben, neue Kämpfe.

Die Arkaner hatten mich unter Beobachtung. Mehr noch, sie konnten ein Portal direkt vor meiner Nase öffnen. Sie würden so lange Druck ausüben, bis die Kardinäle einsahen, dass sie einen zu hohen Preis für mich zahlten und dass ein kleines Geschäft mit dem Teufel das geringere Übel darstellte. Und auf diesen Gedanken würden sie unweigerlich kommen, wenn man ihnen in Aussicht stellte, direkt unter dem Petersdom eine Thermonuklearbombe zu zünden.

Ich weiß nicht, was mich zu meinem nächsten Schritt bewog, die Verzweiflung oder die erneut überraschend durchgebrochenen Funktionalsfähigkeiten. Jedenfalls hob ich die Hand und betrachtete den Stahlring, das letzte Relikt meines Turms. Nein, mit dem hatte all das natürlich nichts zu tun. Bei ihm handelte es sich nur um fünf Gramm Metall. Aber er half mir ... mich daran zu erinnern, was die mir angetan hatten. Wut zu entwickeln. Diesem feigen Unsichtbaren, der ein Blutbad in den friedlichen Straßen Roms angerichtet hatte, ebenbürtig zu werden.

Ebenbürtig - oder überlegen.

»Ich muss zum Herzen der Finsternis«, sagte ich. »Ich muss zu ihren Wurzeln vorstoßen, sie finden und verbrennen. Niemand ... darf ... sich ... so ... aufführen.«

Ich fuhr mit der Hand durch die Luft, wobei ich meinen Zeigefinger ausgestreckt hatte, als würde ich auf ein riesiges Touchpad schreiben. Keine Ahnung, was genau ich da »schrieb«. Keine Ahnung, wie das vor sich ging. Kotja hatte gesagt, er brauche eine Art Fixpunkt, er müsse bereits an dem Ort gewesen sein, zu dem er sich bringen wollte, oder den Menschen kennen, dem er folgen wollte. Ich brauchte etwas anderes. Etwas absolut Außergewöhnliches.

Meine Hand hüllte ein blaues Leuchten ein. Vom Zeigefinger riss sich eine Flammenzunge los, die in der Luft schlingerte. Ich fuhr mit der Hand durch den Raum, und die Inschrift leuchtete auf, geschrieben in einer Sprache, die es auf der Erde nicht gab und nicht geben durfte. Runen, Hieroglyphen oder arabische Zierschrift. Vielleicht auch einfach nur ein Ornament. Geheimnisvoll, hypnotisierend, Raum und Zeit durchdringend ...

Ich fasste die MPi bequemer und trat in das sich öffnende Portal.

Dreizehn

Trotz allem bin ich überzeugt, dass der Mensch im Grunde seines Herzens ein friedliches Wesen ist. Dumm, grausam, lüstern, naiv und zänkisch - aber friedlich. Niemand mit gesundem Menschenverstand und geregelten Verhältnissen würde danach trachten, jemanden umzubringen. Dergleichen tun nur Verrückte und Fanatiker. Selbst ein verknöcherter Kriegsherr, ein grober Klotz, der noch nie etwas anderes als eine Uniform getragen hat, der noch den Weg vom Bett zum Klo im Marschschritt zurücklegt und seiner Katze Armeekommandos erteilt, würde es vorziehen, Titel für seine Dienstjahre und Orden für Erfolge bei der Parade zu erhalten. Nicht umsonst heißt es in den traditionellen Trinksprüchen der russischen Soldaten »auf die Gefallenen« - und nicht »auf den Sieg«. Auf den Sieg trinken kann man nur, wenn der Krieg schon tobt ...