Andererseits stiegen meine Chancen, das Meer zu erreichen, je weiter ich mich von den Bergen entfernte. Und Meer bedeutete jedenfalls Leben.
Unentschlossen stand ich da. Die Sonne ging schon im Westen unter, die Bergkette lag im Süden. Es war Sommer und heiß. Wollte ich da noch weiter nach Süden stiefeln?
Der blaue Zeiger des Kompasses wies mir mit freudigem Nicken eine einzige Richtung.
Ich marschierte nach Norden.
Mein Auftauchen in dieser Welt konnte kein - durfte kein! - Zufall sein. Irgendwie hatte ich die in mir schlummernden Fähigkeiten geweckt, mehr noch, ich war Kotja und anderen höheren Funktionalen wie Kuratoren oder Hebammen ebenbürtig geworden. Mich fesselte keine Leine, ich konnte Portale im Raum öffnen ... Nur wann und warum konnte ich das?
Auf das Warum wusste ich noch keine Antwort. Aber wie sah es mit dem Wann aus?
Zum ersten Mal war es zu einem solchen Durchbruch gekommen, als Kotja in seiner Panik versucht hatte, mich zu erwürgen. Mit tödlichem Griff hatte er meine Kehle umklammert, ich kriegte schon keine Luft mehr, Rettung gab es keine - bis ich in dem hilflosen Versuch, mich zu befreien, dem Kurator einen Schlag von mörderischer Kraft verpasste. Kotja war samt Tür aus dem Auto geschossen und im Schnee gelandet, wobei die verbeulte Tür wie ein eiserner Kragen um seinen Hals hing.
Ach, was für eine angenehme Erinnerung!
Was war damals geschehen? Jemand hatte versucht, mich umzubringen. Angst, Wut und Zorn - was davon hatte meine Fähigkeiten aktiviert? Und diese Situation ließ sich sehr gut mit der gegenwärtigen vergleichen ...
Aber halt, es hatte schließlich weitere Fälle dieser Art gegeben!
In den eisernen Weiten von Janus wäre ich beinahe erfroren - und meine Fähigkeiten hatten sich nicht gemeldet.
Als mich die Polizisten in Elbląg umzingelt hatten, konnte ich nichts dagegen machen.
In Orjol wiederum hatte ich mich bei meiner Flucht vor den Arkanern in ein Taxi gesetzt. Damit war ich eigentlich aus der Gefahrenzone raus. Doch dann führte ich mit dem Fahrer ein zwangloses Gespräch über die Straßen der Gegend und wusste völlig banale Details darüber, wann und mit wem ihn seine Frau betrog.
Also musste die erste und naheliegendste Erklärung falsch sein. Es lag nicht an der Wut. Ich war nicht der gutmütige Dr. Jekyll, der sich in den grausamen Mr. Hyde verwandelte. Da musste etwas anderes dahinterstecken.
Etwas ziemlich Einfaches.
Einfacher noch als Wut und Zorn!
Meine Hand schnappte zu, als wollte ich die Lösung, die mir zu entgleiten drohte, einfangen. Ich war mir ganz sicher, dass ich, wenn ich erst mal den Einschaltmechanismus meiner Fähigkeiten begriffen hatte, noch etwas viel Wichtigeres erfasst hätte. Die Grundlagen dieser Kraft, die Unlogik all dieser Parallelwelten mit ihren zahlreichen Übereinstimmungen und ihren nicht minder zahlreichen Unterschieden.
Was verband die drei Situationen noch?
Zweimal hatte ich in Lebensgefahr geschwebt, einmal ... einmal musste ich eine Wahl treffen. Ob ich nach Moskau zurückkehrte oder meinen Weg nach Charkow fortsetzte.
Schon wärmer?
Und wie!
Die polnischen Polizisten in Elbląg hätten mich niemals geschnappt, denn Kotja hatte auf mich aufgepasst. Genau wie damals auf Janus. Worauf es aber ankam: Ich hatte in beiden Situationen gar keine andere Wahl gehabt. Ich hatte mich in die Eiswüste begeben müssen, genau wie ich den Polizisten nicht hatte entwischen können. Ich war dem einzig gangbaren Weg gefolgt.
In den drei anderen Fällen hatte ich jedoch eine Wahl treffen können.
Ich hätte Kotja im Auto um Gnade anflehen können - oder versuchen, mich zu wehren.
Ich hätte nach Moskau zurückkehren können - oder nach Charkow weiterfahren.
Ich hätte mich den Arkanern ergeben können - oder den aussichtslosen Kampf aufnehmen.
Eine Wahl. Eine Wegscheide meines Schicksal.
Arkan regiert die Welten, lenkt ihre Entwicklung in die eine oder andere Richtung. Es löscht Cervantes aus der Geschichte - und es gibt weder Don Quixote noch Sancho Pansa. Das bedeutet in den Hirnen von Hunderten und Tausenden seiner Zeitgenossen, gebildeten und belesenen Menschen, indes keine solch große Veränderung, dass die Position der Kirche ins Schwanken geriete oder Rittertum und Mittelalter vor der Zeit endeten. Die Renaissance wäre ein wenig anders verlaufen, die Kirche hätte sich ihre Position bewahrt, die technische Entwicklung sich verzögert. Obwohl aus der Realität herausgefallen, hätte Don Quixote am Ende doch alle Windmühlen dieser Welt besiegt ...
Aber - was für eine Ironie des Schicksals - die weitaus machtvollere Kirche auf Feste hielt die Biowissenschaften für zulässig!
Nein, vermutlich war es zu der Spaltung der Welten nicht nur aufgrund des unglückseligen spanischen Schriftstellers gekommen. Da spielten noch eine Menge anderer Faktoren eine Rolle, angefangen von Cäsar, der nicht von Brutus verraten worden war, bis hin zu Churchill, der philosophische Traktate statt seiner politischen Memoiren schrieb. In jedem Fall zeigte das Vorgehen der Funktionale jedoch: Sie nahmen hochpräzise Veränderungen in der Geschichte vor, mischten sich ausschließlich in das Schicksal einzelner Menschen ein. Anscheinend hingen die Fähigkeiten der Funktionale generell also ebenfalls von einer Wahl ab. Und ich erhielt jedes Mal meine Kräfte zurück, wenn mein Schicksal mich vor eine Wahl stellte, vor eine ernsthafte Wahl, nicht das Dilemma, ob man Tee oder Kaffee trinkt.
Was mir im Übrigen längst nicht garantierte, dass ich die richtige Entscheidung traf.
Die Sonne verzog sich jetzt endgültig hinterm Horizont. Der Himmel verdunkelte sich rasch, die ersten Sterne funkelten auf. Ich blieb stehen und sah mich noch einmal um. Sollte ich in der Dunkelheit weiterwandern, mich an den Sternen orientieren? Um morgen, irgendwann am Ende meiner Kräfte, in der glühenden Sonne zusammenzubrechen?
Besser suchte ich mir ein Nachtlager. Dieser Punkt der Steppe war dafür nicht besser oder schlechter geeignet als jeder andere.
Ich nahm den Rucksack ab, spielte mit einer der Essensrationen herum, öffnete sie jedoch noch nicht. Stattdessen aß ich ein Stück Schokolade, trank Wasser aus der Flasche. Ich meinte, mich mit einem oder zwei Schlückchen zu bescheiden - doch danach war die Flasche zu einem Drittel leer. Also musste ich besser aufpassen, viel besser...
Den Rucksack legte ich mir unter den Kopf, die MPi unter den rechten Arm. Ich rechnete zwar nicht mit ungebetenen Gästen, aber falls doch ...
Am Himmel funkelten nach und nach immer mehr Sterne auf. Nirgendwo sonst sieht man so viele Sterne wie nachts in der Steppe. Im Meer glitzert Krill, spiegelt sich das schwache Licht der Sterne wider. Hier dagegen herrschte absolute Dunkelheit. Ich hatte das Glück gehabt, zu Neumond in diese Welt zu gelangen - als wollte ich ihr nur einen Besuch abstatten, um mich an der Schönheit des hiesigen Himmels zu ergötzen.
Beim Einschlafen fragte ich mich, ob ich da wirklich das ferne Rauschen des Meeres hörte. Oder ob mir meine Nerven den ersten Streich spielten. Weil ich fürchtete zu verdursten...
Mitunter findet man ja selbst im bequemsten Bett in ausgeglichenster Gemütsverfassung keinen Schlaf. Oder man schläfst ein, wacht aber in der Nacht mehrmals auf. Oder man schläft die ganze Nacht durch, fühlt sich am Morgen aber zerschlagen und müde.
Aber hier, auf diesem mit trockenem, pikendem Gras bewachsenen Boden, mit meinen Verfolgern, die sich jeden Moment direkt neben mir materialisieren konnten, nach dieser grausamen und blutigen Auseinandersetzung, öffnete ich munter und tatendurstig beim ersten Sonnenstrahl die Augen. Ich hatte sogar einen beruhigenden und angenehmen Traum gehabt. Ob das an der sauberen Luft lag? Oder ob die Schokolade irgendwelche Tranquilizer enthalten hatte? Oder erlaubte sich die unvorhersehbare menschliche Psyche mal wieder einen ihrer üblichen Scherze?