Während ich mich reckte und zur Lockerung ein paar Schritte vor und zurück ging, lauschte ich auf die Signale meines Körpers. Einen Alarm gab es nicht, ich wollte nur etwas trinken. Langsam, um das Vergnügen herauszuzögern, holte ich die Flasche heraus, schraubte sie auf und trank ein paar Schluck. Danach aß ich die Schokolade auf. Finster blickte ich auf die aufgehende Sonne.
In der Wüste bringt dich Hitze im Handumdrehen um. Zum Glück befand ich mich nicht in der Wüste, die Luft war nicht ganz so trocken, und diesen Tag würde ich schon noch überstehen. Morgen würde ich dann entweder Wasser brauchen oder ... oder ich würde gar nichts mehr brauchen.
Den Rucksack geschultert, die MPi um den Hals gehängt! Und auf nach Norden! Solange die Hitze noch einigermaßen erträglich war, musste ich eine möglichst große Strecke zurücklegen ...
Aber ich brauchte dann doch nicht lange zu marschieren.
Nach zwei, drei Minuten bemerkte ich vor mir einen Streifen, der die Steppe von Osten nach Westen durchzog. Nachdem ich genauer hingesehen hatte, aber trotzdem nicht dahintergestiegen war, legte ich einen Zahn zu.
Als mir endlich klar war, was ich da sah, blieb ich erst stehen, bevor ich mich schließlich langsam und vorsichtig weiterwagte.
Bis hin zum Rand dieses Cañons, der die Steppe zerklüftete.
Ich bin weder ein Geograph noch ein Geologe. Ich weiß nicht - zumindest nicht ohne die Einspeisung meiner Funktionalskenntnisse -, ob es in unserer Welt solche Cañons gibt. Vermutlich schon.
Dem Grand Canyon, den alle Regisseure von Actionfilmen so lieben, glich dieser Abgrund nicht. Aber auch mit einer normalen Schlucht hatte er nichts zu tun.
Er war gerade wie ein Pfeil, rund fünfzig Meter breit und mindestens genauso tief. Die extrem steilen Wände des Cañons bildeten an seinem Fuß eine schmale Schlucht, durch die mit starker Strömung Wasser schoss. Der Cañon fing irgendwo im Vorgebirge an, und als ich mit dem Blick dem Wasser folgte, machte ich in der Ferne eine blaue Fläche aus.
Ich war auf einem Plateau entlanggewandert, das dicht am Meer lag!
Ein Problem weniger. Verdursten würde ich nicht.
Falls ich es nach unten schaffte.
Ob das auch eine Art von Wahl war? Sollte ich hinunterkraxeln oder den Cañon entlang zum Meer wandern? Ich schnippte mit den Fingern und versuchte, die blaue Flamme entstehen zu lassen. Nichts. Anscheinend hatte ich keine Wahl, ich musste runter.
Warum hatte ich es in meiner Jugend bloß nicht mit Freeclimbing versucht? Ein Bekannter von mir war drei Jahre lang regelmäßig in eine Kletterhalle gegangen, zu Turnieren gefahren und hatte im Naturschutzgebiet Stolby bei Krasnojarsk Felssäulen erklommen ... Nach dem fünften oder sechsten Bruch hatte er diesen Sport dann aufgegeben, im Großen und Ganzen zufrieden, selbst wenn er heute mit seinen fünfundzwanzig Jahren schon hinkte.
Na schön, versuchen wir’s ...
Die ersten Meter waren die flachsten, gleichzeitig aber auch die schwierigsten, denn die Wand des Cañons bestand hier aus fester, trockener Erde, die leicht unter Füßen und Händen wegbröckelte. Eine Hilfe waren die Graswurzeln, die den Boden durchdrangen und ihn nicht ganz abrutschen ließen. Dann folgte der harte Steinboden, auf dem es zu meiner Überraschung leichter wurde. Durch die Verwitterung war ein Schichtgestein entstanden, das alle zwanzig, dreißig Zentimeter eine recht bequeme »Stufe« aufwies, auf die ich meinen Fuß setzen konnte. Nur war die Wand extrem steil. Aber immerhin nicht senkrecht. Selbst wenn ich abgleiten würde, gab es noch Chancen, mit heiler Haut davonzukommen.
Was ich allerdings lieber nicht ausprobieren wollte.
Schweiß floss mir in die Augen, meine Beine fingen schon bald an zu zittern. Für einen Städter ist es nicht gerade ein Kinderspiel, die Natur zu bezwingen. Die idiotische MPi, die mir zunächst federleicht vorgekommen war, baumelte inzwischen schwer um meinen Hals. Wegwerfen wollte ich sie aber trotzdem nicht. Obwohl der Rucksack drohte, mir von den Schultern zu rutschen, wagte ich es nicht, stehenzubleiben und ihn festzuzurren. Als die Hälfte des Abstiegs hinter mir lag, machte ich eine Pause, um Luft zu schnappen. Ich blickte nach oben - und wusste sofort, dass ich damit einen Fehler begangen hatte. Der über mir lastende Felsen erschreckte mich viel mehr als der Abgrund unter mir. Zu spät wurde mir klar, dass ich immer irgendwie runter kommen würde, selbst ohne dabei zum Krüppel zu werden. Aber wieder nach oben, das würde ich wohl kaum schaffen.
Der Stein, auf dem ich mich zu lange abgestützt hatte, begann unter meinen Füßen wegzubrechen. Hastig setzte ich meinen Weg fort. Hier machte ich besser keine Pausen mehr.
Zehn, fünfzehn Meter über dem Boden des Cañons wuchs wieder Gras am Hang, das viel frischer grünte als oben, und es gab auch kleine Sträucher. Einerseits bot mir das eine Möglichkeit, mich festzuhalten. Andererseits rutschte ich im Gras aus, und die Büsche rissen mir, obwohl sie keine Dornen hatten, die Hände auf. Was war das wieder für eine Schweinerei? Das Zeug half mir - und gleichzeitig verletzte es mich. Was für ein grausames Gesetz der Natur!
Auf den letzten Metern packte mich der Wunsch, mich von der Felswand zu lösen und den steilen Abhang hinunterzurasen. Wahrscheinlich wäre das sogar gutgegangen, allerdings wäre ich am Ende im Wasser gelandet. Und hier, am Boden des Cañons, war es entsetzlich kalt. Die Sonne schaute nur mittags in dieser Schlucht vorbei.
Mit nach der Anstrengung zitternden Armen und Beinen, blutig gekratzten Händen, einem Hemd, das ich mir an einem hinterhältigen Zweig aufgerissen hatte, und einem schmerzenden Knie - ich war gegen einen Stein gestoßen - erreichte ich schließlich den Fuß des Cañons, einen schmalen, nur zwei Meter breiten Uferstreifen. Rasch schoss das klare Wasser an meinen Füßen vorbei. Ich setzte mich auf einen Felsblock und wusch mir Hände und Gesicht. Danach trank ich mich satt. Das Wasser war eisig. Trotzdem zog ich mich aus, um mich am Ufer stehend zu bespritzen.
Wie gut das tat!
Ich trat etwas vom Wasser weg, setzte mich auf einen runden Stein und wartete, dass mein Körper trocknete. Seit dem Eintritt in diese Welt hatte ich nicht den Wunsch nach einer Zigarette verspürt. Jetzt fand ich in dem Rucksack die vorausschauend dort versteckte Schachtel - genauer: eine halbe Schachtel - und rauchte voller Genuss. Danach zog ich mich wieder an. Und öffnete eine der Rationen.
Ich fand ein fast vollständiges Mittagsmenü vor. Ein Plastikbeutelchen mit verdächtigen Brocken von brauner Farbe, die sich, kaum dass ich Wasser hinzugab, erhitzten und in eine Tomatensuppe verwandelten. Mit einiger Fantasie konnte man das Ganze sogar als Borschtsch bezeichnen. Das Fehlen einer Schüssel machte sich störend bemerkbar, bis ich begriff, dass die arkanischen Soldaten zunächst das in eine Plastikschüssel verpackte Hauptgericht - gefriergetrocknetes Fleisch und ebensolche Kartoffeln - zu essen hatten. Auch dieser Gang erhitzte sich nach der Zugabe von Wasser und gewann Form und Geschmack. Ich schüttete die Suppe in das frei gewordene Gefäß und aß sie. Dann öffnete ich eine Dose, auf der ein Apfel abgebildet war, und trank den sehr dicken und süßen Saft. Das Brot, fest in Plastik eingeschweißt, schmeckte fast wie frisches.
Perfekt. Mich über schlechtes Essen zu beklagen wäre eine Sünde gewesen.
Wohingegen es durchaus sinnvoll war, mir mal den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich als Nächstes tun sollte.
Ich könnte, erstens, versuchen, ein Floß zu bauen. Indem ich die vertrockneten Sträucher zusammenband, am Ufer Holz suchte ... und die Kondome aufblies. Klang ja unglaublich verlockend!
Und ich könnte, zweitens, das Ufer den Strom entlang hinunterwandern. Hier würde ich nicht ganz so gut vorankommen wie in der Steppe, dafür würde mir tagsüber die Hitze nicht zu schaffen machen, und Wasser hätte ich auch stets in der Nähe.
Keine sehr tolle Wahl. Nach dem, was ich von oben gesehen hatte, mündete der Fluss nach rund vierzig Kilometern ins Meer. Welche Strecke würde ich an einem Tag bewältigen? Wenn ich Glück hatte, würde ich die vierzig Kilometer schaffen. Und Meer bedeutete jedenfalls Leben.