Выбрать главу

»Was für eine Art Belohnung?« erkundigte Linnet sich zweifelnd.

»Alles, was du willst.«

»Alles?« Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben sollte, aber schließlich versprach er es ihr so oft, daß sie sich überreden ließ. Der geflügelte Mann reichte ihr durchs Fenster hindurch das versprochene Obst, eingewickelt in ein Stück Stoff, in dem sich außerdem ein Zettel für ihre Mutter befand. Dann machte sie sich, während seine Mahnungen, vorsichtig zu sein und sich zu beeilen, ihr noch in den Ohren klangen, mit höchst zwiespältigen Gefühlen auf den Heimweg. Vielleicht sollte sie das Obst einfach aufessen, dachte Linnet, und den Zettel irgendwo in eine Schlucht werfen – denn eines stand auf jeden Fall fest: Trotz aller Versprechungen des Mannes würde ihre Mutter sie ganz bestimmt bestrafen, wenn sie herausfand, wo ihre Tochter gewesen war.

Anvar stand im hinteren Teil der Höhle, atmete tief durch und setzte alles daran, daß seine Hände endlich aufhörten zu zittern. Er hielt den Erdenstab so fest, daß seine Knöchel weiß durch das Fleisch hindurchschimmerten. »Bist du fertig?« fragte er Shia. Einen kurzen Augenblick lang dachte er an die letzte Gelegenheit, bei der er diese Worte zu ihr gesagt hatte: damals im Wald, als sie Harihns Pferde stahlen.

»Um der Göttin willen, fang endlich an!« Die scharfe Antwort der Katze verriet ihre Nervosität. Sie kauerte zusammen mit Khanu in der Nähe des Höhleneingangs im Schatten des vorspringenden Felsbrockens, hinter dem’ der Magusch seine Feuerstelle eingerichtet hatte.

»Geht in Deckung!« Anvar hob den Stab. Er spürte, wie seine Macht, dem Schlagen eines anderen Herzens gleich, durch ihn hindurchpulsierte, während er sich darauf vorbereitete, sich den Weg in das Herz des Berges zu erzwingen. Aufregung und Jubel mischten sich in seinem Blut. Endlich! Eine Chance zu entkommen – falls sein Plan funktionierte. Der Magusch schluckte schwer, straffte die Schultern und schob alle Gedanken an ein mögliches Scheitern beiseite. Was konnte ihn schon aufhalten, wenn er den Stab der Erde in Händen hielt?

Anvar zog seinen Arm zurück und konzentrierte seinen ganzen Willen darauf, die verschlungenen Kräfte des Stabes freizulassen, aber im letzten Augenblick ließ ihn irgend etwas zögern. Ein Schaudern durchlief ihn, als er plötzlich an die Lawine denken mußte, die er verursacht hatte, weil er die Macht, die ihm zur Verfügung stand, nicht richtig begriffen hatte. Nur um Haaresbreite war er, als er in diese Schlucht hinunterstürzte, dem Tod entgangen. Wenn er nun auf dieselbe gedankenlose Weise versuchte, sich mit Hilfe des Stabes seinen Weg zum Tempel zu erkämpfen … Der Magusch erzitterte. Wie leicht konnte durch seine Schuld der Berg über ihnen zusammenstürzen? Aber welche Wahl hatte er schon?

»Feigling!« beschimpfte Anvar sich und hob noch einmal den Arm. Seine Hand, die den Stab umklammerte, begann zu zittern. Dann hatte er plötzlich ein lebhaftes Bild von Aurian vor Augen, stirnrunzelnd und besorgt, wie sie am Tag der Lawine ausgesehen hatte. Sie hatte ihn damals gebeten, vorsichtig zu sein, aber er hatte ihre Warnungen in den Wind geschlagen. Langsam ließ Anvar den Arm sinken. Diesmal mußte er es besser machen. Tot würde er ihr nichts mehr nützen können. Also runzelte er die Stirn und dachte angestrengt nach. Was würde Aurian jetzt tun?

Nun, zunächst einmal würde sie mehr über die Kräfte, mit denen sie es zu tun hatte, herausfinden. Da erinnerte der Magusch sich an das wenige, das sie ihm über das Heilen beigebracht hatte. Also drängte Anvar sein Bewußtsein ein klein wenig aus den engen Grenzen seines Körpers hinaus und tastete mit dem zusätzlichen Sinn des Heilers in den Felsen, so wie Aurian es bei der Kristalltür getan hatte, die ihr unter der Drachenstadt von Dhiammara den Weg versperrt hatte.

Wie ein suchender Fangarm schlüpfte sein Wille zwischen die ineinander verwobenen Gitter der inneren Struktur des Steins, einer Schlange ähnlich, die durch die verschlungenen Äste eines versteinerten Waldes kroch. Der Stein war in Schichten übereinandergewölbt, an manchen Stellen so zerborsten und rissig, daß Anvar mühelos gewisse Schwächen ausmachen konnte. Anvar merkte sich jede einzelne Stelle gut, kehrte dann in seinen Körper zurück und rief die Kräfte des Stabes.

Überall um den Magusch herum sprangen Schatten auf, als die Höhle plötzlich in blendend grünes Licht getaucht wurde. Die uferlose Kraft der Hohen Magie überschwemmte ihn wie eine gewaltige Welle, wie die Lawine, die ihn beinahe in den Tod gerissen hätte. Anvar biß die Zähne zusammen und versuchte, die Kraft in sich zu umfangen. Ein dünner Schweißfilm zeigte sich auf seinen Brauen. Schließlich machte er sich daran, die Energie des Stabs in kleinen Stößen freizulassen, und richtete einen schmalen Strahl smaragdgrünen Leuchtens auf die Schwachstelle in der hinteren Höhlenwand, wo einige Schichten des Steins in sich zusammengesackt waren.

An der Stelle, an der das Licht des Stabs auf dem Stein aufschlug, stieg schwarzer Rauch auf. Der Fels begann zu glühen und zu zischen, und Steinbrocken stoben mit lautem Krachen zur Seite. Die Anstrengung, soviel Magie in sich zu halten und zu beherrschen, ließ Anvar zittern, und er brauchte seine ganze Kraft, um die bereits zerfallende Mauer weiter einzureißen, wobei er die sich neu bildenden Risse zu dehnen und auszuweiten versuchte. Stück um Stück begann der Fels zu bersten und einzustürzen; die Öffnung wurde immer größer. Das Innere der Höhle versank in dem düsteren Zwielicht, das von draußen eindrang, aber Anvar, der sich wie ein Maulwurf tief in das steinerne Herz des Berges hineinbohrte, nahm nichts anderes mehr wahr als den Tunnel, den er geschaffen hatte, und das vibrierende, gleißende Licht des Erdenstabs.

Die Moldan in dem geheimen Herzen des Berges war hellwach und spürte die Anwesenheit des Stabs der Erde, der näher und näher kam. Als Shia den Berg erklommen hatte, war der Erdenstab für die Moldan wie das unangenehme Jucken einer Fliege auf ihrer Haut gewesen. Als die Katze die Höhle erreicht hatte, hatte sie gespürt, wie er in sie eindrang. Sie hatte gewartet, voller Aufregung und nicht ohne Angst, um herauszufinden, was als nächstes geschehen würde. Erst als Anvar den Stab ergriff, nahm die Moldan die Gegenwart eines verhaßten Zauberers wahr.

»Nein!« Der Berg zitterte unter dem Zorn der Moldan. Anvar, der ganz damit beschäftigt war, die Macht des Stabs zu beherrschen und zu lenken, schenkte dem keine Beachtung; er glaubte lediglich, daß er der Grund des Bebens war und ein wenig vorsichtiger vorgehen müsse. Shia und Khanu, die sich vor dem Rückprall der Magie duckten, hatten andere Probleme. Hoch oben in der Stadt von Aerillia flogen Himmelsleute wie eine Schar gejagter Vögel auf, Häuser bekamen Risse und begannen zu beben, und Felsbrocken und Schnee lösten sich aus dem Antlitz des Gipfels. Aber Erdbeben waren in diesem Gebiet nichts Ungewohntes. Die Berge hatten sich schon zuvor in ihrem Schlaf umgedreht und würden es zweifellos auch in Zukunft noch tun. Rabe und Cygnus klammerten sich entsetzt aneinander und vergaßen für einen kurzen Augenblick ihre Feindseligkeit, während sie einander Trost spendeten. Elster, die in den Zellen unter dem Tempel gefangen war, hoffte, daß die Wände bersten und sie befreien würden, aber nichts dergleichen geschah. Selbst ihr Gebet darum, daß ihr Tod den Hohenpriester um ihr Opfer betrügen würde, blieb ungehört. Schwarzkralle, der sich in den geheiligten Hallen auf Elsters Opfer vorbereitete, nahm das Beben als ein Zeichen für Yinzes Gunst.

Die Moldan krümmte sich vor Schmerzen. Das Eindringen des Stabs in ihren Körper war wie eine Klinge, die man ihr ins Fleisch trieb. Endlich jedoch hatte sie sich wieder unter Kontrolle und konnte die ihr angeborenen Kräfte der Alten Magie benutzen, um den Schmerz zu unterdrücken. Die uralte Kreatur empfand heiße Wut. Was tat dieser Zauberer da? Wie konnte er es wagen? Sie spürte den schräg abfallenden Pfad auf, der, gekennzeichnet durch ein Band unbezwingbaren Schmerzes, nun weit in sie hineinreichte.